Menschen mit Behinderungen möchten über ihre Lebensplanung selbst entscheiden. Davon handelt in letzter Konsequenz der Film Zum Filmarchiv: "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" (Gabrielle, Louise Archambault, Kanada 2013). Auch bei der Forderung nach sozialer Inklusion geht es nicht nur um Barrierefreiheit oder gemeinsames Lernen, sondern auch um eine gesteigerte gesellschaftliche Wahrnehmung für die Bedürfnisse und Wünsche behinderter Menschen. Dass auch sie nach Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung streben, zeigt etwa die "Duisburger Erklärung", die 1994 von der "Lebenshilfe", einer Selbsthilfevereinigung von Eltern-, Fach- und Trägerverbänden, bei einem Kongress verabschiedet wurde. Darin heißt es unter anderem: "Wir wollen Verantwortung übernehmen. (…) Alle haben das Recht, an der Gemeinschaft teilzunehmen. (…) Wir möchten die Wahl haben, wo und wie wir wohnen. (…) Wir möchten über Freundschaft und Partnerschaft selbst entscheiden." Inzwischen sind einige dieser Forderungen auf Gehör gestoßen und in Gesetzesform gegossen. Die 2008 in Kraft getretene UN-Behindertenrechtskonvention wurde in 138 Staaten ratifiziert und gilt als völkerrechtlicher Vertrag. Sie fordert eine inklusive Gesellschaft und Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben für behinderte Menschen. In Deutschland kommen Regelungen wie zum Beispiel das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) hinzu, das Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt verhindern soll.

Das Recht auf Liebe

Foto: Alamode Film

Trotzdem sind nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene noch viele Kraftanstrengungen nötig, um Menschen mit Handicaps wirklich Teilhabe und Selbstständigkeit zu ermöglichen. Auch das Verhältnis jedes Einzelnen zu Behinderung und Behinderten ist noch vielfach von Berührungsängsten geprägt. Hier setzt der Film "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" an. Er will das Publikum in die Lage versetzen, das Leben aus der Binnenperspektive seiner behinderten Protagonisten/innen zu sehen. Aus diesem Blickwinkel entwickelt das Zum Inhalt: Drehbuch dann seine Themen und Konfliktlinien. Im Fokus des Films steht die erwachende Liebe zwischen Gabrielle und Martin, zwei junge Menschen um die 20, die beide das Williams-Beuren-Syndrom (WBS) haben. Diese geistige Behinderung, hervorgerufen durch einen seltenen Gendefekt, hat eine generelle Intelligenzminderung unterschiedlichen Ausmaßes und teilweise auch motorische Einschränkungen zur Folge. Viele Menschen mit WBS lieben den Umgang mit anderen Menschen und sind in der Regel sehr musikalisch, was auch auf Gabrielle und Martin zutrifft. Beide wirken sehr zugewandt, fröhlich und freundlich und sind in vielen Bereichen ihres alltäglichen Lebens eigenständig und selbstverantwortlich. Miteinander entdecken sie ihre Sexualität und ihr Bedürfnis nach Liebe und Nähe. Als Martin Gabrielle in ihrer betreuten Wohngemeinschaft besucht, toben sie nach anfänglicher Schüchternheit wild miteinander herum und ziehen sich dabei aus. Die Szenen strahlen große Natürlichkeit aus, nichts daran wirkt anzüglich. Gleichzeitig schwingt auch eine unschuldige Erotik mit, die einige Zuschauer/innen durchaus befremden mag. Martins Mutter jedenfalls ist entsetzt, als sie ihren Sohn abholt. Sie glaubt, ihn schützen zu müssen, spricht ihm aber auch jedes Recht auf eine eigene Sexualität ab.

Unsicherheiten im Umgang mit Sexualität

Foto: Alamode Film

"Du weißt, dass es für Menschen wie sie nicht dasselbe ist", sagt sie bei einem Gespräch zu Gabrielles Betreuer Laurent. Und: Es gehe ihr zu schnell. Dass Menschen mit WBS schnell intim werden können, verstört Angehörige genauso wie auch Außenstehende. Eine der großen Stärken von "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" ist es, diese Vorbehalte zuzulassen und auch die Sorgen von Martins Mutter nicht vorn vornherein zu diskreditieren. Umso deutlicher positioniert sich der Film dann später, wenn er Martin und Gabrielle ihre Beziehung ganz intim und natürlich ausleben lässt. Sexualität ist ein existenzielles Bedürfnis von Menschen – mit und ohne Behinderungen. Doch die Tatsache, dass auch Behinderte körperliche Liebe und Zärtlichkeit erleben wollen, stößt in der Gesellschaft teilweise auf Vorbehalte und scheitert für Behinderte oft an der praktischen Umsetzung.

Grenzen der Eigenständigkeit in "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe"

Foto: Alamode Film

Ihre erwachende Liebe und Sexualität lässt im Film Gabrielles generellen Wunsch nach mehr Eigenständigkeit wachsen. "Ich will auch eine Wohnung wie du", sagt sie ihrer Schwester. Die lässt sie probeweise einen Tag bei sich wohnen, aber der Versuch schlägt fehl: Der Toaster qualmt, der Brandschutzmelder schlägt Alarm, und die Diabetikerin Gabrielle isst im Stress ein ganzes Glas Nugatcreme und bringt sich damit in Lebensgefahr. Noch schlimmer verläuft der Tag, an dem Gabrielle ihren Freund auf eigene Faust bei der Arbeit besuchen will. Die Regisseurin baut die Expedition in die Stadt zu einem der dramatischen Höhepunkte des Films auf: In einer Zum Inhalt: Parallelmontage darf Martin seit Wochen erstmals wieder zur Chorprobe und sieht enttäuscht, dass Gabrielle nicht da ist; die wiederum trifft Martin nicht bei der Arbeit in einem Tiergeschäft an, verläuft sich in der Stadt und wird schließlich von einem Krankenwagen aufgelesen. "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" zeigt also deutlich, dass der Wunsch nach Selbstständigkeit für seine Hauptfigur auch Grenzen hat. Dass diese Grenzen aber persönliches Wachstum keinesfalls ausschließen, macht der Film ebenso deutlich. In einer weiteren hochemotionalen Szene verabschiedet Gabrielle sich weinend von ihrer Schwester Sophie, die zu ihrem Lebenspartner nach Indien zieht. Aber am Ende des Films ist sie über diese Trennung hinweggekommen und wendet sich Martin umso selbstbewusster zu.