Historischen Quellen zufolge war es der britische Politiker Philip Snowden, der 1916 zum ersten Mal davon sprach, dass im Krieg die Wahrheit das erste Opfer sei: "Truth is the first casualty of war." Das Wissen um diesen Zusammenhang ist viel älter, aber es bedurfte des Ersten Weltkrieges mit seinen intensiven Propagandaanstrengungen, um die Bedeutung von Wahrheit und Lüge im Krieg besser zu verstehen. Heute sind wir längst an den Zweifel gewöhnt: Nachrichten aus Kriegsgebieten sind mit Vorsicht zu genießen, und zwar auch dann, wenn sie "live" sind, etwa Youtube-Aufnahmen aus Syrien oder Periscope-Szenen aus dem Donbass. In allen Fällen bedarf es zusätzlicher Arbeit der Einordnung. Für moderne Kriege gilt mehr denn je, dass sie manchmal erst von Historikern richtig verstanden werden können.

Verhältnis von Wahrheit und Lüge

Die Geschichte, die François Ozon in Zum externen Inhalt: Frantz (öffnet im neuen Tab) erzählt, legt allerdings noch einen anderen Schwerpunkt auf das Verhältnis von Wahrheit und Lüge. Denn der Krieg, um den es hier geht, ist bereits Vergangenheit. Nun geht es für die Menschen darum, mit den Folgen fertigzuwerden. Vor allem für die unterlegene Nation ist dies ein schwieriger Prozess. Die Familie Hoffmeister aus Quedlinburg dient Ozon dazu, uns die deutschen Reaktionen auf die Niederlage und auf die persönlichen Verluste nahezubringen. Die Hoffmeisters haben ihren Sohn im Krieg verloren. Die genauen Umstände kennen sie nicht. In dieser Situation gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann die Dinge auf sich beruhen lassen und dem Krieg oder der Feindschaft zwischen den Völkern allgemein die Schuld geben, wie es der Vater tut. Oder man unternimmt alles, um den Dingen auf den Grund zu gehen.

Faktizität und Objektivität

In der Philosophie lautet der entscheidende Begriff hier Faktizität. Damit ist gemeint, dass wir es mit Tatsachen zu tun haben, die unveränderlich sind. In unserer Umgangssprache finden sich noch Spuren des lateinischen Ursprungs. "Fakt ist", sagen manche Menschen im Deutschen, wenn sie etwas bekräftigen möchten. Fakt ist in "Frantz" , dass der Franzose Adrien und der Deutsche Frantz durch die Umstände des Todes von Frantz verbunden sind. Der Tod ist eine unwiderrufliche Tatsache. Manchen Menschen sind die genauen Umstände eines Todes gar nicht so wichtig, weil das Wissen um diese an den Tatsachen nichts ändert. Andere Menschen wollen gerade deswegen jedes Detail wissen. Es hilft ihnen, sich mit dem Tod abzufinden.

Frantz, Szene (© X Verleih)

In der Geschichte von Adrien, Anna und ihren beiden Familien werden jedoch neben dem Bestand der reinen Tatsachen noch zwei andere wichtige Aspekte erkennbar: Objektivität und Subjektivität. Wenn man diesen Aspekt der Faktizität miteinbezieht, könnten wir auch sagen: Wahr ist, was für alle betroffenen Personen gleichermaßen Gültigkeit besitzt. Denn die Wahrheit hat immer auch eine subjektive Komponente. Was für den einen Menschen Wahrheit bedeutet, könnte eine andere Person als Lüge empfinden. In Frantz kommt Adrien mit der Absicht nach Deutschland, die nur ihm bekannte (objektive) Wahrheit über die Ereignisse im Krieg zu berichten. Die Umstände bringen es nun mit sich, dass es so weit nicht kommt. Im Kreise von Frantz’ Familie erscheint es ihm angebrachter, eine erträgliche Fiktion an die Stelle der Wahrheit zu setzen.

Vergessen als Schutz

Das Wahrheitsverständnis in "Frantz" hat eher mit der (subjektiven) Psychologie zu tun als mit den Ansprüchen einer objektiven Wissenschaft. Man könnte den Tod von Frantz als ein Trauma bezeichnen, mit dem die Familie Hoffmeister umgehen muss. In dieser Situation ist es fraglich, was die Wahrheit bringen würde. Von einem Trauma spricht man bei einem Ereignis, an das man nicht mehr erinnert werden möchte. Die Erinnerung ist zu schmerzhaft. Der Schmerz ist leichter zu ertragen, indem die Betroffenen die Erinnerung durch etwas anderes ersetzen. Mit diesem psychologischen Reflex wird für die Hoffmeisters der französische Freund von Frantz wichtiger als die Feindschaft mit den Mördern ihres Sohnes. Dass Adrien Frantz’ Familie ein Stück auf dessen Violine vorspielt, ist auch ein Bild für eine Versöhnung im Zeichen der Verdrängung des eigentlich Geschehenen.

Die Psychoanalyse kennt in diesem Zusammenhang den Begriff der Deckerinnerung: Etwas legt sich über die Wahrheit und verdeckt sie, weil die Erinnerung unerträglich ist. In diesem Begriff zeigt sich ein soziales Wahrheitsverständnis. Im Prinzip ist eine Deckerinnerung eine andere Art der Lüge. Man macht sich etwas vor beziehungsweise man akzeptiert, wie es in "Frantz" der Fall ist, eine Geschichte, um mit der Vergangenheit abschließen zu können. Die Deckerinnerung ist wichtig, um das Leben aushalten zu können. Von Fall zu Fall ist dabei zu unterscheiden, ob es besser ist, sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen, oder ob man diesen Schleier besser nicht wegzieht. Das Verdrängen erfüllt auch eine emotionale Schutzfunktion. Bei Ozon ist es Anna, die Frantz' Familie selbstlos vor der Wahrheit beschützt.

Zumutbare Wahrheiten

Frantz (© X Verleih)

Die deutsche Autorin Ingeborg Bachmann hat ihren berühmten Satz „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“ ausgerechnet bei der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1959 gesagt. Sie hat damit etwas ganz Wesentliches zum Ausdruck gebracht: Die Wahrheit ist häufig eine Zumutung. Es ist eine anspruchsvolle Haltung, sich für die Wahrheit einzusetzen. Es gibt aber auch Situationen, in denen es einfacher ist, mit der "Legende", also einer Fiktion zu leben, wie es am Ende des berühmten Westerns "Der Mann, der Liberty Valance erschoss" heißt.

Lüge als Mittel der Versöhnung?

In "Frantz" ist Anna die Figur, die diese Zweideutigkeit der Wahrheit einerseits aushalten muss, dann aber allmählich therapeutisch zur Anwendung bringt. Sie entscheidet, welche Wahrheit für die Familie von Frantz zumutbar ist. Sie handelt dabei in einer Spannung zwischen Wahrheit und Versöhnung, die im 20. Jahrhundert auch institutionellen Ausdruck gefunden hat. In vielen ehemaligen Unrechtssystemen wurden nach dem Erlangen der Freiheit Kommissionen eingesetzt, die einen doppelten Titel trugen: Man sprach von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Besonders prominent wurde die TRC (Truth and Reconciliation Commission) für die Aufarbeitung des Apartheid-Regimes in Südafrika.

Die Sehnsucht nach Wahrheit steht oft in einer Spannung zu deren Zumutungen. Das ist die Grundthematik von "Frantz" . Mit dem letzten Bild seines Films deutet Francois Ozon aber noch etwas Entscheidendes an: Es gibt neben der Wahrheit der Fakten und der Wahrheit der Seele noch weitere Wahrheiten. Etwa die Wahrheit der Kunst. Sie ist vieldeutig und vereinigt alle anderen Wahrheiten so in sich, dass wir uns in unendlichen Interpretationen auf eine Wahrheit zubewegen, die wir niemals erlangen werden. Denn diese Wahrheit ist letztendlich mit einer Wirklichkeit identisch, die zu groß ist, um sie jemals vollständig erfassen zu können.