Jonas Poher Rasmussen, geboren 1981, hat an der Filmhochschule Super16 in Kopenhagen studiert. Seine dokumentarischen Arbeiten wurden seit 2006 mit zahlreichen Preisen bedacht. Sein erster animierter Zum Inhalt: Dokumentarfilm Zum Filmarchiv: "Flee" wurde bei den Academy Awards 2022 als Bester Dokumentarfilm, Bester Animationsfilm und Bester fremdsprachiger Film nominiert – ein Novum in der Oscar®-Geschichte.

kinofenster.de: Herr Rasmussen, in "Flee" erzählen Sie die Geschichte eines Schulfreundes, der als Jugendlicher von Afghanistan über Russland nach Dänemark flieht. Wie hat sich Ihre Freundschaft entwickelt?

Jonas Poher Rasmussen: Im Alter von 15 oder 16 Jahren haben wir uns in meinem dänischen Dorf jeden Morgen auf dem Weg zum Gymnasium an der Bushaltestelle getroffen. Anfangs sprachen wir über Musik, Filme, gingen zusammen ins Fitnessstudio. Nach der Schulzeit sind wir gereist, feiern fast jedes Jahr Silvester zusammen. Es ist eine gewachsene Freundschaft, aber seine Vergangenheit blieb lange eine Art Black Box, die wir nicht öffneten. Er wollte nicht darüber reden, das habe ich respektiert. Vor etwa 15 Jahren, da waren wir Ende 20, kündigte er an, dass er seine Geschichte irgendwann mit mir teilen würde.

kinofenster.de: Als Sie die Geschichte schließlich zum ersten Mal hörten, hatten Sie da gleich ein gemeinsames Filmprojekt im Sinn?

Jonas Poher Rasmussen: Schon vorher. Ich dachte, es könnte ein animierter Zum Inhalt: Kurzfilm werden, da kannte ich die Story und ihre Reichweite noch gar nicht. Ich war interessiert an der Tatsache, dass mein Freund dieses Geheimnis mit sich herumtrug. Tatsächlich ist die erste Interview- Zum Inhalt: Szene im Film der Moment, an dem er sich mir gegenüber öffnet. Nach ein paar Interviews stellte ich fest, dass das Projekt deutlich größer sein würde als ein Kurzfilm.

kinofenster.de: Protagonistinnen und Protagonisten mit prägnanten Biografien sind eine Konstante in Ihrem dokumentarischen Werk. Warum haben Sie sich diesen Stoff von Beginn an als Zum Inhalt: Animationsfilm vorgestellt?

Jonas Poher Rasmussen: Für einen Dokumentarfilm und auch für ein Radio-Feature fühlte mein Freund sich nicht bereit. Deshalb suchten wir einen geeigneten Weg, um die Geschichte zu erzählen. Denn im Film spricht er wirklich zum ersten Mal über diese Dinge. Er konnte es mir gegenüber tun, weil wir uns seit 25 Jahren kennen, aber er wollte damit nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen. Die Tatsache, dass er hinter der Animation anonym sein konnte, war für ihn ausschlaggebender Punkt.

kinofenster.de: Ist dann der im Film verwendete Name Amin Nawabi ein Pseudonym?

Jonas Poher Rasmussen: Genau. Zudem sieht ihm die Figur im Film zwar ähnlich, aber wir haben bewusst äußerliche Merkmale verändert, damit er nicht erkannt wird.

kinofenster.de: Neben den Animationen zeigen Sie historisches Archivmaterial (Glossar: Zum Inhalt: Found Footage) vom Bürgerkrieg in Afghanistan oder von Moskau nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Warum haben Sie diese beiden Bildebenen kombiniert?

Jonas Poher Rasmussen: Dokumentarfilme über die Vergangenheit stehen immer vor der Herausforderung: Wie kann man das Vergangene lebendig werden lassen? Hier war die Animation ein gutes Werkzeug, um Amins Elternhaus, das Leben in Kabul in den 1980er- und in Moskau in den 1990er-Jahren szenisch zeigen zu können. Das Archivmaterial hat den Zweck, die Zuschauenden daran zu erinnern, dass dies die wahre Geschichte einer realen Person ist. Es setzt Knotenpunkte im Verlauf des Films und verknüpft die persönlichen Erlebnisse von Amin mit der Weltgeschichte.

kinofenster.de: Wie haben Sie die verschiedenen Animationsstile in "Flee" konzipiert?

Jonas Poher Rasmussen: Es gibt drei Animationsstile im Film. Der erste zeigt die Ereignisse in der Vergangenheit. Diese Teile basieren viel auf dem recherchierten Archivmaterial, weil wir ein Gefühl für die jeweiligen Orte erzeugen wollten. So haben wir die Wohnung in Moskau nach Fotos und einem Grundriss, den mein Freund aus dem Gedächtnis gezeichnet hat, animiert. Die Authentizität, die das Dokumentarische ausmacht, sollte erhalten bleiben. Es gibt aber auch einige stilistische Referenzen aus Spielfilmen und aus der Malerei. Beim Zum Inhalt: Licht und bei der Zum Inhalt: Farbgestaltung haben wir uns zum Beispiel von Edward Hopper inspirieren lassen. In seinen Bildern steckt dieses tiefe Gefühl von Einsamkeit, das ich auch in der Erfahrung meines Freundes gesehen habe.

kinofenster.de: Haben Sie für die Gegenwartsebene Kameraaufnahmen gemacht?

Jonas Poher Rasmussen: Die Bilder aus der Wohnung von Amin und seinem Freund sowie von ihrer Haussuche haben wir gefilmt und dann als Referenz für die Animation genutzt. Es gibt Zum Inhalt: Jump Cuts, unscharfe Bilder oder plötzliche Zum Inhalt: Kamerabewegungen – diese dokumentarischen Charakteristika haben wir bewusst aufgegriffen. Das ist der zweite Stil. Und drittens gibt es diese expressiven, teils surrealen Zum Inhalt: Sequenzen. Deren Gestaltung kommt von der Art, in der Amin über Traumata oder unpräzise Erinnerungen gesprochen hat. Seine Schilderungen wurden dann inkohärenter, anstelle von Dingen und Ereignissen beschrieb er sein Innenleben. Wir wollten diese Emotionen visualisieren, die Angst, die Wut, die Trauer. Mit der Kraft der Animation war das möglich, mit einer Kamera nicht.

kinofenster.de: Welche Chancen und welche Herausforderungen sehen Sie allgemein im animierten Dokumentarfilm?

Jonas Poher Rasmussen: Ein Schlüsselerlebnis war für mich Zum Filmarchiv: "Waltz with Bashir" (Ari Folman, DE/FR/IL 2008). Der Film hat gezeigt, dass man Animation als Werkzeug nutzen kann, um wahre Geschichten zu erzählen, insbesondere wenn es um traumatische Ereignisse geht. Wir werden mit solchen Themen ständig in den Nachrichten konfrontiert und tendieren dazu, sie auszublenden. Durch die Ebene der Animation werden schwierige Geschichten vermittelbar. Die Gefahr wiederum kann sein, dass man mit der Animation zu viel Distanz schafft. Man muss die Balance finden: die Möglichkeiten der Form einsetzen und trotzdem den inneren Kern der Geschichte beibehalten.

kinofenster.de: Ihr Film lief auf zahlreichen Festivals, erhielt mehrere Oscar®-Nominierungen. Warum erhält er Ihrer Meinung nach international so viel Aufmerksamkeit?

Jonas Poher Rasmussen: Die meisten Menschen können an die Frage anknüpfen, was Zuhause bedeutet und wie man einen Platz in der Welt findet. Natürlich machen viele Menschen eine konkrete Fluchterfahrung, aber die Suche nach einem sicheren Ort für sich ist ein grundsätzliches menschliches Bedürfnis. Darüber hinaus kreiert die Perspektive unserer Freundschaft Nuancen, die es in anderen Geschichten über Flucht normalerweise nicht gibt.

kinofenster.de: Welche Chancen sehen Sie darin, in der in der Schule mit einem Film wie "Flee" zu arbeiten?

Jonas Poher Rasmussen: Ich war in Dänemark bei Schulvorführungen mit 15- bis 18-Jährigen. Einmal haben gut 150 Jugendliche zwei Stunden konzentriert über den Film geredet – das waren auch die Lehrenden so nicht gewohnt. Das Wundervolle an jungen Menschen ist ihre Offenheit. Sie haben ihre Identität noch nicht vollständig geformt, sie sind neugierig und wollen die Welt verstehen. Ein Film wie "Flee" kann ihnen eine andere Perspektive und ein Einfühlungsvermögen geben, das für dieser Art von Geschichte so wichtig ist.