Für Zum Inhalt: Dokumentarfilme, die sich mit vergangenen Ereignissen oder der Innenwelt von Personen beschäftigen, stellt sich im besonderen Maße das Problem der visuellen Darstellbarkeit – denn oftmals können sie nicht auf authentische Bilddokumente zurückgreifen. Das betrifft nicht zuletzt auch Filme, die Krieg, politische Gewalt, Vertreibung und ihre Folgen zum Thema haben: Autoritäre Regime vernichten gezielt Bilder und andere Beweismaterialien, um eine juristische Aufklärung von Verbrechen unmöglich zu machen. Archive werden durch Kriegshandlungen beschädigt oder zerstört. Und nicht selten erschwert es die Notwendigkeit der Anonymisierung Betroffenen, selbst Zeugnis über das Erlebte abzulegen.

Der Herausforderung "fehlender Bilder" begegnen Filmemacher/-innen mit verschiedenen Verfahren: Eine bereits seit langem gängige Form ist das dokumentarische Reenactment. Dabei werden Zum Inhalt: Szenen, für die es kein Originalmaterial gibt, von Darsteller/-innen nachgespielt. Der britische Historiker und Archäologe Robin George Collingwood sah schon 1935 die Aufgabe des Reenactments in einer möglichst authentischen Rekonstruktion der historischen Ereignisse auf der Basis gegebener Quellen. Dabei versprach er sich vom lebendigen Nachvollzug auch einen Erkenntnisgewinn. Mit der Zeit etablierte sich das Reenactment zusehends als ästhetisches Mittel im Dokumentarfilm. Dabei schrieb der US-amerikanische Regisseur Errol Morris Filmgeschichte, als er in "The Thin Blue Line" (USA 1988) mit nachgestellten Szenen arbeitete, um einen Justizirrtum bei einem Mordfall aufzudecken, was ihm tatsächlich gelang.

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Vermittlung innerer Erfahrung

Während das Reenactment sich auf den Nachvollzug äußerer Ereignisse bezieht, geht es im Kontext von Aufarbeitung ebenso sehr um die innere Wahrnehmung der Betroffenen. Die erfahrene Gewalt wirkt oft traumatisch auf das Erinnerungsvermögen. Während akuter Gefahr handeln Betroffene meist instinktiv, um sich und ihre Angehörigen zu schützen. Es bleibt keine Zeit, um die Ereignisse zu verarbeiten, oft sind sie auch zu schmerzhaft. So können Leerstellen in der Erinnerung entstehen, während die Betroffenen häufig von Alpträumen heimgesucht werden.

Die klassische Form des Dokumentarfilms für eine Darstellung der persönlichen Geschichte ist das Interview (Glossar: Zum Inhalt: Talking Heads). Über gezielte Fragen kann im Gespräch eine subjektive Rekonstruktion der Ereignisse stattfinden. Im Fall von traumatischen Erlebnissen ist das jedoch für die Betroffenen oft problematisch. Es besteht die Gefahr einer Überwältigung in der erneuten Konfrontation mit der noch unverarbeiteten Vergangenheit. Der filmische Umgang mit Traumata braucht eine besondere Sensibilität, die sich auch im ästhetischen Verfahren widerspiegelt.

Das Format des Animadok

Ein neueres dokumentarisches Format, das sich auf die Vermittlung von Erinnerungen und subjektivem Erleben konzentriert, ist der Animadok-Film. Animierte Filmsequenzen und dokumentarisches Material greifen hier ineinander. Dabei wird ein Bezug zwischen persönlicher Wahrnehmung der Betroffenen und historischer Gegebenheit hergestellt. Der Begriff "Animadok" geht auf das DOK-Fest Leipzig zurück, das 1997 erstmals eine gleichnamige Sektion für Zum Inhalt: Animationsfilme mit dokumentarischem Anspruch schuf. In der Filmgeschichte war eine solche Vermischung traditionell im Sach- und Lehrfilm üblich, wo Animationen zur Veranschaulichung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse eingesetzt wurden. Die als Animadok bezeichneten Filme stellen hingegen eine neuere Tendenz im Dokumentarfilm dar. Häufig sind sie mit erinnerungskulturellen Fragen verbunden.

Zu den herausragenden Beispielen gehört der Kurzfilm "Silence" (GB 1998) von Sylvie Bringas und Orly Yadin. Eine Holocaust-Überlebende berichtet darin von ihrer Kindheit in Theresienstadt und dem auf andere Weise schwierigen Leben nach der Befreiung. Animierte Passagen in unterschiedlicher Gestalt treffen auf historische Bilder und werden dabei von der Stimme der Zeitzeugin (Glossar: Zum Inhalt: Voiceover) begleitet. Schuldgefühle, überlebt zu haben, und das Nachleben der Verfolgung werden in berührender Weise anschaulich.

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Zu den bekanntesten Werken gehört der Langfilm Zum Filmarchiv: "Waltz with Bashir" (DE/FR/IL 2008) von Ari Folman. Nach seinem Einsatz als Soldat im ersten Libanon-Krieg 1982 wurde der israelische Regisseur von Alpträumen heimgesucht, die sich nicht unmittelbar auf ein Ereignis zurückführen ließen. Im Gespräch mit Therapeuten und ehemaligen Kameraden kristallisierte sich Folmans Trauma heraus, das mit dem Massaker von Sabra und Schatila im September 1982 in Beziehung steht. Folman ergründet Schuld und psychische Beeinträchtigungen in eindringlichen animierten Filmbildern. "Waltz with Bashir" endet schließlich mit dokumentarischen Bildern der Ermordeten des Massakers.

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Eine außergewöhnliche Form findet auch "Das fehlende Bild" (FR 2013) von Rithy Panh. Der kambodschanische Regisseur animiert in einem Stop-Motion-Verfahren (Glossar: Zum Inhalt: Animationstechniken) kleine Tonfiguren in Dioramen, um Zeugnis der Diktatur unter Pol Pot abzulegen. Als Jugendlicher gelang ihm die Flucht nach Frankreich, seine Familie starb an Hunger und Erschöpfung in den "Killing Fields", den Stätten, an denen das Regime hunderttausende Menschen ermorden ließ. Lückenhaftes Archivmaterial verbindet sich mit den zum Leben erweckten Figuren zu einer Trauerarbeit, die darum bemüht ist, den Propagandabildern der Diktatur durch das Schaffen von Bildern der undokumentierten Ereignisse etwas entgegenzusetzen.

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Traumatische Erfahrungen visualisieren

Zum Filmarchiv: "Flee " (DK/FR/SE/NO 2021) von Jonas Poher Rasmussen nutzt das Format des Animadok, um die Vielschichtigkeit einer langjährigen individuellen Fluchterfahrung auszuloten, die im Afghanistan der frühen 1990er-Jahren ihren Anfang nahm. In behutsamen Befragungen nähert sich der Regisseur seinem Protagonisten, einem langjährigen Freund. Die animierten Filmbilder schaffen dabei einen Schutzraum für die Erkundung schmerzhafter Verlusterfahrungen und Momente der Scham. Traumatische Situationen werden durch grafische Abstraktionen veranschaulicht: Aus einem Chaos gezeichneter Linien entstehen Silhouetten, die das gewaltvolle Geschehen andeuten. Dokumentarische Bilder wiederum verankern die persönlichen Erinnerungen in einem umfassenderen kulturellen Gedächtnis. Aufnahmen von Studentinnen im Kabul der 1980er-Jahre, aber auch die Tragödie der Opfer von Schlepperbanden, vermittelt durch Nachrichtenbilder, weisen über Amin Nabawis Biografie hinaus. Die Verbindung aus Animationen, intimem Gespräch und historischen Aufnahmen ermöglichen eine emotionale Teilhabe an der Geschichte, die für den Dokumentarfilm neue Erfahrungswelten erschließt.

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