Kategorie: Videoanalyse
"Die Odyssee" – eine märchenhafte Erzählung über den realen Schrecken von Flucht und Vertreibung
Unsere Analyse zeigt, wie der Film die Flucht zweier Kinder als universelle Geschichte über Vertreibung und Migration erzählt.
Im Zum Inhalt: Abspann widmet Regisseurin Florence Miailhe ihren Film Zum Filmarchiv: "Die Odyssee" ihrer Großmutter, die 1905 vor Pogromen aus ihrer Heimatstadt Odessa geflohen war – und darüber hinaus allen Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen.
Die Videoanalyse untersucht, wie die Regisseurin diese Universalität herstellt, indem sie reale Flucht- und Vertreibungsereignisse heranzieht und sie in eine allgemeingültige märchenhafte Erzählung integriert.
Hier können Sie die Videoanalyse in Textform nachlesen:
Kyona: "Weißt du, ich hab in Pappkartons geschlafen, wurde an Leute verkauft, hab Papa und Mama verloren und jetzt auch noch meinen Bruder." – Baba Yaga: "Na und, glaubst du es geht nur dir so?"
Sprecher: Mit dieser Frage berührt die zuvor stumme Märchenfigur Baba Yaga den Kern von Zum Filmarchiv: "Die Odyssee": Einerseits erzählt der Film konkret von der Flucht der Geschwister Kyona und Adriel. Andererseits verweist eine universelle Ebene auf Millionen Geflüchtete, die weltweit und zu allen Zeiten ähnliche Schicksale teilen. Die Geschichte wird rückblickend in Kapiteln erzählt. Kyonas Skizzenbuch verbindet die Ebenen. Junge: "Ist von dir? Sieht hübsch aus." – Wache: "Was ist das? Ist Müll."
Sprecher: Der Handlungsort und die -zeit bleiben unklar. Beim Überfall auf das Heimatdorf der Geschwister verschwinden die Angreifer im Rauch und hinter Sturmhauben. Ihre Identität und die Herkunft bleiben offen. Mann: "Keine Bewegung, Hände hoch!"
Sprecher: Der Film spielt mit seiner Zeit- und Ortslosigkeit. Eine symbolische Landkarte zeigt das Niemandsland zwischen Überall und Nirgendwo. Mutter: "Warum organisieren wir uns nicht, um uns zu wehren? Es gibt welche, die sich wehren." – Vater: "Ich bin zu alt zum Kämpfen. Denk an die Kinder. Wir müssen hier weg. Wir machen es wie die anderen, alle anderen."
Sprecher: Auf dem Bahnhof nennt die Mutter fiktive Regionen und Ethnien, aber reale Fluchtgründe. Kyona: "Mama, wer sind die?" – Mutter: "Aus Tiliana." – Adriel: "Wieso kommen die her?" – Mutter: "Weil die kein Wasser mehr haben. Die Tiere verdursten, dann die Kinder." – Kyona: "Und die da drüben, die so tätowiert sind?" – Mutter: "Skandaberger. Bei ihnen herrscht Krieg. Alle haben ihre Gründe."
Sprecher: Während der Flucht von Kyona und Adriel spielt der Film auf historische und aktuelle Gewaltereignisse und Konflikte an. Der leitmotivische schwarze Rauch und das Arbeitslager gemahnen an Genozide wie die Shoah. Kyona aus dem Off: "Schalangah war ein Loch, das man in den Berg gegraben hatte. Das Ende der Reise für alle, die es nicht rübergeschafft haben. Man warf sie dort hinein und ließ sie dort verrotten." – Wache: "Bewegt euch! Männer links, Frauen nach rechts!"
Sprecher: Die von einem Schlepper organisierte Überfahrt weckt Assoziationen an die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer. Schlepper: "Stillsitzen!"
Sprecher: Nicht zuletzt verweisen Märchenelemente auf die abstrakte Lesart der Erzählung. Dazu gehört die alt wirkende Erzählerinnenstimme von Hanna Schygulla. Kyona aus dem Off: "Zuerst hab' ich gedacht, es wär nur für eine Nacht. Dass sie am nächsten Tag kommen würden und wir bis dahin in Sicherheit wären." Sprecher: Adriel und Kyona erinnern an Geschwisterpaare wie Hänsel und Gretel. Bedienstete: "Ich bleib hier, der Wald ist verflucht."
Sprecher: Märchenhaft sind auch Figuren wie die bösen Zieheltern oder die hexenartige Frau im Wald. Eine wiederkehrende Elster erscheint als magisches Wesen. Kyona: "Na schön, du hast gewonnen. Das Ding gehört dir." Sprecher: Der Müllberg am Ende ihres ersten Auftauchens holt auf den Boden realer Krisen zurück. So entsteht ein märchenhafter Film über reale Schrecken, der die Migration als Teil der Menschheitsgeschichte auf poetisch-zeitlose Weise neu bearbeitet.
Adriel. "Ab jetzt immer geradeaus."