Über 6.000 Kilometer hat Siyar zurückgelegt, als der Junge aus einem kleinen irakischen Bergdorf am Ende der Reise im winterlichen Norwegen seiner Schwester Nermin gegenübersteht. Die Route, die Siyar mithilfe von Schleppern und Verbindungsleuten aus seinem Heimatdorf bewältigt, zeichnet exemplarisch die geografischen, kulturellen und politischen Topografien der aktuellen Flüchtlingsbewegungen aus dem Globalen Süden in die wohlhabenden Industrienationen Europas nach. „Geh nicht nach Deutschland“, rät der Anführer des türkischen Schlepperrings einem der Flüchtlinge, „geh lieber weiter nach Norden, nach Skandinavien. In Norwegen gibt es Jobs und sie respektieren die Menschenrechte.“

Strapaziöse Reise

Der Junge Siyar (© Dualfilm)

Dualfilm

Wirtschaftliche Gründe veranlassen die Mehrzahl von Siyars Reisegefährten zur Flucht aus ihren verarmten Herkunftsländern: auf Ladeflächen, in Minivans und zu Fuß durch die schwer bewachten Wälder an der türkisch-griechischen Grenze. Auch Siyar ist gezwungen, seine Reise in die Illegalität auf diese Weise fortzusetzen, obwohl ihn nicht die Hoffnung auf ein besseres Leben nach Europa führt. In der Eröffnungsszene wird er von den Handlangern der Schlepper in Zellophan eingehüllt und in einem Öltank versteckt. Es ist die erste Etappe eines Erkenntnisprozesses, der für den unerfahrenen Jungen eine Art éducation sentimentale darstellt, einen Bildungsroman. Die strapaziösen Umstände von Siyars Reise führen die romantische Vorstellung eines humanistischen Bildungsideals jedoch ad absurdum.

Klaustrophobische Enge statt Freiheitsgefühl

Auch das optimistische Freiheitsgefühl des Zum Inhalt: Roadmovies kann Zum Filmarchiv: "Der Junge Siyar" schon aufgrund der Fluchtumstände, die Regisseur Hisham Zaman eindringlich schildert, nicht einlösen. Im Gegenteil: Siyars Reise beginnt in den weiten, in majestätischen Zum Inhalt: Totalen gefilmten Bergpanoramen im Nordirak und führt ihn fern der Heimat in dunkle Hinterzimmer, dubiose Seitenstraßen und auf die nächtlichen Umschlagplätze des internationalen Menschenhandels. Die prächtigen Landschaften, die auf der ersten Wegetappe noch an Siyar vorüberziehen, stehen im harten Kontrast zur klaustrophobischen Enge seiner Verstecke. Ein Anflug von Roadmovie-Optimismus kommt nur sporadisch auf, etwa wenn Evin Siyar auf der Flucht ein kurdisches Lied aus ihrer Kindheit vorsingt.

Kulturelles Selbstverständnis

Das Spannungsverhältnis von lokaler Verbundenheit und globaler Erfahrung bestimmt die Geschichte von "Der Junge Siyar" . Diese Spannung hat eine politische, aber auch eine kulturelle Dimension, die auf Siyars Reise nicht voneinander zu trennen sind. „Glücklich sind die, die sich Türken nennen dürfen“ steht bei seiner Ankunft in der Türkei an einen Berg geschrieben. Als jungem Kurden ist Siyar ein solches Selbstverständnis jedoch fremd. Das Dilemma einer ethnischen Volksgruppe ohne staatliche Anerkennung (und dadurch mit einer prekären kulturellen Identität) ist in Zamans Film ein fortwährendes Thema. Das kurdische Mädchen Evin spricht mit den Istanbuler Straßenkindern nicht die Sprache ihrer Eltern, sondern Türkisch. Siyar wiederum vollzieht auf seiner Reise die diasporische Erfahrung Hunderttausender Kurden im Exil nach. Er bewegt sich im weit entfernten Europa in einem vertrauten Netzwerk aus familiären Kontakten und Verbindungen zu anderen Exilanten seines Dorfes.

Erinnerung an die Heimat

Zaman veranschaulicht dieses Nebeneinander von lokalen und globalen Einflüssen mithilfe von Zum Inhalt: Rückblenden und Träumen. Für Siyar fungieren die Bilder aus der Heimat (der Fußballplatz) und von seiner Familie (der gemeinsame Schlafraum) als eine Art Selbstvergewisserung: eine Erinnerung an seine „Mission“, aber auch die unschuldige Sehnsucht eines Kindes, das von seiner Gemeinschaft allein auf eine gefährliche Reise geschickt wurde. Auf erzählerischer Ebene kommt in den Rückblenden des Films zudem ein kultureller Gegensatz zum Ausdruck. Siyar verlässt erstmals sein Dorf, die Ankunft im westlich geprägten Istanbul bedeutet für ihn einen Kulturschock. Erinnert der Schlafsaal in seiner Unterkunft noch an den Gemeinschaftsraum zu Hause, den er mit seinen Geschwistern teilt, ändert sich Siyars Blick auf sein Umfeld durch die ungewohnte Perspektive eines Fremden. Die Zum Inhalt: Schnitte werden schneller, viel mehr Informationen müssen auf den Straßen der Metropole verarbeitet werden. Nicht zufällig begibt sich Siyar nach seiner Ankunft in Istanbul erst einmal auf das Dach des Hotels. Mit dem Blick über die Stadt verschafft er sich wieder Übersicht – eine Perspektive, die ihm aus der kargen Berglandschaft seiner Heimat vertraut ist.

Zwischen Pflichtgefühl und Verantwortung

In der Szene auf dem Hoteldach klingt noch eine andere, frühere Zum Inhalt: Einstellung nach, in der Siyar mit dem Gewehr seines Vaters auf dem Gipfel eines Berg steht und vor der eindrucksvollen Naturkulisse einen Warnschuss abfeuert. Das Bild ist exemplarisch für die Situation Siyars. Wie verloren steht die kleine Gestalt vor dem massiven Bergpanorama, eine Verlorenheit, die sich in der folgenden Szene noch verstärkt. Von hinten nähert sich die Kamera dem sitzenden Siyar – und vollzieht plötzlich eine Bewegung, mit der sie von ihrem objektiven Beobachterstatus in eine subjektive Perspektive wechselt: die des toten Vaters, der nur schemenhaft zu erkennen ist. Aber Siyars Ersuch um Rat bleibt unbeantwortet. Sein Pflichtgefühl gegenüber dem Vater und die Verantwortung für die Familie (sowie der soziale Druck durch die Familie des verprellten Bräutigams) resultieren in der einsamen Entscheidung, nach Europa aufzubrechen, um seine Schwester zu töten.

Der Junge Siyar, Szene (© Dualfilm)

Wachsende Zweifel

Aber auch in der Fremde kann Siyar seine Herkunft nicht abschütteln. „Du siehst immer noch aus wie einer vom Dorf“, lacht Evin ihn nach ihrer Ankunft in Berlin aus. Doch je weiter ihre Reise sie in den Norden Europas führt, desto mehr werden seine Erinnerungen an die Heimat (und an seine „Mission“) von Zweifeln abgelöst. Statt in Rückblenden reist der Film nun in (Alb-)Träumen in das Dorf zurück. Das kindliche Versteckspiel, die allegorische Suche nach Nermin, die sich vor Siyar verbirgt und doch gut sichtbar ist, wie ein kurzer Zum Inhalt: Kameraschwenk offenbart, verdeutlicht einerseits eine Verlustangst, zeigt aber andererseits auch seine Orientierungslosigkeit. Dass die Erinnerung und die Entfremdung in "Der Junge Siyar" so untrennbar nebeneinander existieren, ist auch ein Indiz für den traumatischen Zustand der kurdischen Identität zwischen Tradition und Moderne.