"Alle gemeinsamen Tätigkeiten, wie das Aufstehen und Niedersitzen, das Austeilen und Einsammeln der Schreibhefte, das Chorsprechen, das Hinweggehen aus der Schule, die Einübung der Buchstaben im Schönschreibunterricht sind nach bestimmten Zeichen gleichzeitig und im Takte zu vollziehen." Wer sich fragt, ob es in dieser Direktive zur Schulvisitation aus den Jahren 1885/86 um das Exerzieren geht oder um das Lernen, dem- oder derjenigen muss man wohl sagen: Es geht um beides.

Schule als Ort der Disziplinierung

Der ganz große Traum

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In den Schulen des Deutschen Kaiserreichs galten Disziplin, Ehrgeiz und Gehorsam viel. Mit Individualität, Gefühl und liberalem Gedankengut war hingegen kein Blumentopf zu gewinnen. Immerhin: Bildung erschien auch dem Kaiser als wichtiges Thema, so dass er sich 1889 in einer "Allerhöchsten Ordre" damit beschäftigte – um dabei unverhohlen seinen konservativen Dogmatismus zu offenbaren: "Schon längere Zeit hat mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Stufen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegen zu wirken." Schule war also ein Ort der Disziplinierung und der Indoktrinierung im Sinne des preußischen Staatswesens. Die ersten Szenen des Films Zum Filmarchiv: "Der ganz große Traum" (Sebastian Grobler, Deutschland 2010) zeigen entsprechende Unterrichtssituationen. Allerdings muss man zugestehen, dass Preußen, das als bevölkerungsreichster deutscher Teilstaat Schrittmacher in der Entwicklung des gesamten deutschen Bildungssystems war, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade auf dem Land bemerkenswerte Fortschritte bei der Grundbildung der Bevölkerung erzielte: Durch den Ausbau von Dorfschulen und der Abschaffung des Schulgeldes konnte die Einschulungsrate bis 1890 auf 100 Prozent gesteigert werden.

Bildungspolitische Auseinandersetzungen um das Gymnasium

Weniger bewegte sich zunächst bei den weiterführenden Schulen, die heute als ein Abbild einer hierarchischen Gesellschaftsordnung erscheinen. Die bildungspolitischen Auseinandersetzungen in der Zeit nach 1870 waren geprägt von den Bemühungen, die Sonderstellung des Gymnasiums gegen Reformbestrebungen zu verteidigen: Das Gymnasium stellte mehr als nur eine Schule mit erhöhten Anforderungen dar. Es war eine Institution, mit deren Hilfe eine bürgerliche Elite ihre im Kern konservative Kultur pflegte und sich gegen gesellschaftliche Veränderung abzuschotten versuchte.
Letztendlich ging das Gymnasium auf die mittelalterliche Lateinschule zurück – dementsprechend dominierten Latein und die philologischen Fächer den Lehrplan. Einzig das Gymnasium ermöglichte einen Zugang zur Universität und damit zu den traditionellen Akademikerberufen. Die Familien der Großgrundbesitzer, Staatsbeamten, Richter, Professoren und Theologen waren darauf bedacht, die wenigen Plätze in den Schlüsselpositionen des Staates im kleinen Kreis zu vergeben. Sozialer Aufstieg aus kleinbürgerlichen Verhältnissen war nicht vorgesehen und scheiterte im Zweifelsfall am Schulgeld. Nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung hatten die Chance, das Gymnasium zu besuchen.

Das Schulsystem in Braunschweig

Das Braunschweiger Martino-Katharineum darf man sich durchaus als Musterbeispiel einer solchen Schule vorstellen. Der reale Konrad Koch war dort Schüler, kehrte 1868 als Lehrer zurück und trat damit in die Fußstapfen seines Vaters. Auch der bekannte Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und der Mathematiker Carl Friedrich Gauß haben diese Schule besucht. Wie viele andere Städte erlebte auch Braunschweig im Zuge der Industrialisierung radikale Veränderungen der Sozialstruktur. Die Einwohnerzahl stieg zwischen 1850 und 1890 von 38.000 auf 100.000. Immer lauter wurde die Frage, ob die Lehrpläne und Unterrichtsmethoden der Gymnasien noch zeitgemäß seien. Die mächtiger werdenden Interessensvertreter der Industrie verlangten Nachwuchskräfte, die ihren Anforderungen genügten: Gefragt war Personal mit kaufmännischer oder mathematisch-technischer Qualifikation, Menschen, die sich jenseits philologischer Studien auch in einer zunehmend internationalen Wirtschaftswelt zurechtfinden konnten.

Reformbestrebungen in Schule und Bildung

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Abgesehen davon, dass dieser Aspekt weitgehend ausgeblendet wird, bildet Zum Filmarchiv: "Der ganz große Traum" die schulische Situation im Kaiserreich plastisch ab: Der Leiter des Fördervereins fungiert als konservativer Gegenspieler des als junger Reformer dargestellten Konrad Koch. Zwischen ihnen steht der Schuldirektor, dessen Spielräume jedoch eingeschränkt sind. Seine Reformversuche, wie das Bildungsprogramm für die "unteren Schichten", stehen auf wackeligen Füßen. In der Realität war es beispielsweise der Verein Deutscher Ingenieure, der sich für Bildungsreformen einsetzte und neue Schulformen stärken wollte. Es entstanden technische Fachschulen und Studiengänge; Pädagogen forderten, die Bildungsgänge zu öffnen und Freiräume für liberales und emanzipatorisches Gedankengut zu schaffen. Eine wichtige Zäsur war das Jahr 1900, als die drei Schulformen Gymnasium, Oberrealschule und Realgymnasium formal gleichgestellt wurden – damit eröffneten sich für viele Schüler soziale Aufstiegschancen. Im Hinblick auf die Gleichberechtigung steckte das Schulwesen noch in den Anfängen: Während Mädchen und Jungen gleichermaßen die Volkschulen besuchten, blieb die höhere Schulbildung lange Zeit dem männlichen Teil der Bevölkerung vorbehalten. Ab 1880 wuchs die Zahl der höheren Mädchenschulen jedoch deutlich. 1892 durften Mädchen an den Jungengymnasien in Preußen die Reifeprüfung ablegen. An preußischen Universitäten tauchten um 1900 die ersten Studentinnen auf.

Konrad Koch und der Fußball

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Mit seinem Engagement für den Fußball (der zunächst eher dem heutigen Rugby glich) verfolgte der historische Konrad Koch das Ziel, den bestehenden Turnunterricht zu beleben und für neue Formen der Interaktion zu öffnen. Die damals üblichen freudlosen "Leibesübungen" konnten ihre paramilitärischen Wurzeln nicht verhehlen – eine direkte Linie führt auf die Wehrübungen in den Befreiungskriegen gegen Napoleon zurück. Koch wollte diesen Turnstunden Teamgeist und kreatives Zusammenspiel entgegensetzen: "Der besondere Vorzug der genannten englischen Spiele besteht eben darin, dass die Entscheidung in denselben zumeist nicht von hervorragenden Leistungen Einzelner, sondern von dem Zusammenspiel der Spielgenossen abhängig ist. (…) Die Turnschulstunden aber, die eine an militärische Disciplin anstreifende Ordnung nöthig machen, beschränken die freie Bewegung des Einzelnen zu sehr und schließen einen Verkehr der Schüler unter einander innerhalb der Stunde völlig aus." Das mag in seinen Worten altväterlich klingen – steckt aber voller moderner Ideen.