Das Kind im Mann

Roald Dahl bei der Arbeit in seiner Schreibhütte, Foto: Jan Baldwin, mit freundlicher Genehmigung von The Roald Dahl Museum and Story Centre

Foto: Jan Baldwin, mit freundlicher Genehmigung von The Roald Dahl Museum and Story Centre

Womöglich ist Roald Dahls Kinderbuch Der fantastische Mr. Fox (Fantastic Mr. Fox, 1970) der Schlüsseltext zu seinem Werk – und ein wenig auch zu seinem Leben (1916-1990). In dem Buch geht es um den Zwiespalt zwischen dem anarchischen, von Moral kaum gebremsten kindlichen Ich und einer erwachsenen Verantwortungshaltung in der familiären Situation. Darf man des Nachts lustvoll Hühner scheuchen oder muss man seriöse Texte produzieren, um die Familie zu ernähren? Im Kind Roald Dahl waren anarchische Bestrebungen durchaus vorhanden, denn es hatte große Schulprobleme und musste sich letztlich der "Tortur" eines Internates unterziehen. Noch während des Zweiten Weltkriegs, in dem Roald Dahl sowohl Pilot der Royal Air Force als auch Agent war, veröffentlichte er seine erste Geschichte und sein erstes Kinderbuch (The Gremlins, 1943). Von da an war er als Schriftsteller fleißig und erfolgreich. Die meisten seiner Bücher entstanden in einer maroden Gartenhütte seines Anwesens im englischen Ort Great Missenden, wo er seine anarchischen Fantasien mit Hilfe des Schreibens ausagieren konnte. Mr. Fox wiederum zieht sich auf ein Baumhaus zurück, wenn ihm die Seriosität gerade mal wieder abhanden kommt.

Der Kampf der Kinder

In Dahls Kinderbüchern treffen sich meist zwei anarchische Fraktionen. Denn die erwachsenen und oft sadistischen Bösewichte, die er als Gegenpart zu den kindlichen Helden/innen erfand, sind in ihrer Amoralität fast immer selbst Kinder geblieben und nur deswegen böse, weil sie es nicht schaffen, dies zu erkennen. In Hexen hexen (The Witches, 1983) ist das bei den Magierinnen so, die alle Kinder in Mäuse verwandeln wollen, in James und der Riesenpfirsich (James and the Giant Peach, 1961) bei den schrecklichen Tanten und in Matilda (1988) sogar bei den törichten Eltern der Titelheldin und ihrer grausamen Schuldirektorin. Boshaftigkeit ist bei Dahl eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr zu erwarten wäre. Die kindlichen Helden dagegen dürfen die eigene Anarchie meist ausleben, um sich gegen die Bösewichte zu wehren. Die Folgen ihres Tuns bewirken stets das Gute.

Spott und Anarchie

Das ist eine Weltsicht, die Kindern selbstverständlich Spaß machen muss. Sie ist einerseits fantastisch-magisch, wie man als Kind eben in einem Strauch einen Feind imaginiert oder in einem Pfirsich einen Ort der Zuflucht sieht. Andererseits spielt sie mit anarchistischen Handlungen, die Dahls Kinderfiguren unentwegt vornehmen, wenn sie sich beispielsweise ekelhafte Getränke wie in Das Wundermittel (George's Marvellous Medicine, 1981) ausdenken. Weil Roald Dahl größtes Verständnis für ihre unverschämten Geheimnisse zeigt und sich damit zu ihrem Komplizen macht, ist er bei Kindern sehr beliebt. Erwachsene dagegen haben seine Bücher immer wieder mit moralisch gerunzelten Stirnen diskutiert, sicher unter anderem auch, weil sich Roald Dahl - etwa in Charlie und die Schokoladenfabrik (Charly and the Chocolate Factory, 1964) - sadistisch anmutende Strafen für verwöhnte und verzogene Kinder als Erziehungsmaßnahmen erdachte.

Stoff für Alfred Hitchcock

Wenn Dahls anarchisch schwarzer Humor in den Kinderbüchern etwas Befreiendes hat (und durchaus auch Schadenfreude befriedigt), so bekommt er in den Geschichten für Erwachsene – gesammelt in den Anthologien Küsschen, Küsschen! (Kiss, Kiss, 1960) sowie …und noch ein Küsschen (Someone Like You, 1953) – eine makaber gänsehäutige Schaurigkeit. Dahls Täter/innen erscheinen oft in voller Unschuld, während sie schlimmste Aktivitäten entfalten. Kein Wunder, dass er in den 1950er-Jahren zum Stofflieferanten für Alfred Hitchcock avancierte. Der Gruselmeister produzierte damals eine Reihe mit pointiert gemeinen Fernsehfilmen. Einige der berühmtesten – darunter "Lamb to the Slaughter" (1962) – stammen aus der Feder von Roald Dahl.

Technik und Filme

Überhaupt lieferten viele von Dahls Geschichten Vorlagen für Filme. Er selbst hat außerdem Drehbücher verfasst, etwa zu dem James-Bond-Film "Man lebt nur zweimal" (You Only Live Twice, Lewis Gilbert, USA, Großbritannien 1967) aber auch zu eigenen Büchern, beispielsweise zu "Charlie und die Schokoladenfabrik " (Willy Wonka & the Chocolate Factory, Mel Stuart, Deutschland, USA 1971). In der heutigen Zeit, in der Fantasy eines der beherrschenden Kino-Genres geworden ist, weil man mit dieser Gattung unter anderem demonstrieren kann, wie perfekt die Fabrikation von Träumen durch Technik inzwischen funktioniert, liefert Roald Dahls Literatur immer noch ausgezeichnet ausgearbeitete fantastische Stoffe. Die Frage bleibt allerdings, ob diese mehr überzeugen, wenn sie mit Spiel, Witz und zurückgenommener Technik in Szene gesetzt sind wie Hexen hexen (The Witches, Nicolas Roeg, USA 1989) und Zum Filmarchiv: "Der fantastische Mr. Fox" (The Fantastic Mr. Fox, Wes Anderson, USA 2009) oder wenn sie sich als barock überbordender Bildertaumel präsentieren wie Tim Burtons Version von (Charlie and the Chocolate Factory, Großbritannien, USA 2005). Roald Dahl jedenfalls lehrte immer wieder – auch mit drastischen Maßnahmen –, dass zu viel Süßigkeit zu Schäden führt.

Mehr zum Thema