Anne Frank ist eine Ikone, ein Symbol für den Völkermord an der jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten. Ihr Schicksal ist im kollektiven Gedächtnis verankert und steht stellvertretend für die Geschichten von Millionen von Menschen, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Ihr Tagebuch erinnert aber auch daran, dass Anne Frank ein junges Mädchen war – mit Träumen, Problemen und Wünschen, wie sie typisch für ihr Alter sind. Hans Steinbichler entfaltet mit seiner Zum Inhalt: Adaption ihres Tagebuchs ein vielschichtiges Porträt. Er zeigt sie in seinem Film Zum Filmarchiv: "Das Tagebuch der Anne Frank" selbstbewusst, wütend, widersprüchlich und modern und macht sie damit für Jugendliche zugänglich. Junge Menschen können sich Anne Frank nahe fühlen, weil sie sich in der Darstellung von Lea van Acken wiedererkennen.

Eine humanistische Botschaft

Über das Tagebuch hinaus wurde das Bild von Anne Frank früh durch Kinofilme, Fernsehdokumentationen und Theaterinszenierungen geprägt. Eine wichtige Rolle spielte hier die Bühnenfassung von Frances Goodrich und Albert Hackett, die 1955 ihre Premiere am Broadway hatte. 1959 begannen die Aufnahmen für den preisgekrönten Spielfilm "The Diary of Anne Frank" von George Stevens. Theaterstück und Film enden mit dem Satz, der einem Tagebucheintrag vom 15. Juli 1944 entnommen ist: "Trotz allem glaube ich immer noch an das Gute im Menschen." Die Geschichte von Anne Frank endet also nicht mit ihrer Ermordung in Bergen-Belsen, sondern mit einer humanistischen, versöhnlichen und universellen Botschaft. Der zeitgeschichtliche Kontext, die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung und anderer Opfergruppen wie etwa der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten, tritt dabei in den Hintergrund. Anne Frank bleibt reif und weise und ewig jung in Erinnerung. Auf einem bekannten Foto sitzt sie am Schreibtisch und lächelt in die Kamera.

Das Tagebuch der Anne Frank, Szene (© Universal)

Anne Frank im Schulunterricht

Wesentlichen Anteil an der Erinnerungsarbeit in Deutschland hatte die Lektüre von Anne Franks Tagebuch im Schulunterricht. In der Schule wird ihr Tagebuch noch heute oft als Beispiel für die literarische Gattung Tagebuch gelesen. Dabei geht es vornehmlich um die Bedeutung des Schreibens für Anne und die spätere Veröffentlichung durch ihren Vater, der für die erste Ausgabe einige Tagebucheinträge seiner Tochter (u. a. die offenen Beschreibungen ihrer körperlichen Entwicklung und ihrer Sexualität) kürzte und dadurch ihren Charakter veränderte. In Fächern wie Religion und Ethik fungiert die Geschichte von Anne Frank hingegen eher als Ausgangspunkt, um etwa das Thema Antisemitismus oder den jüdischen Glauben und seine gesellschaftliche Rolle in Deutschland zu behandeln. Die Vermittlung von Wissen über das Judentum am Beispiel eines Opfers des Nationalsozialismus ist jedoch nicht unproblematisch, da dies bei Jugendlichen den Eindruck erwecken könnte, es bestünde ein ursächlicher Zusammenhang.

Moderner, jugendlicher Schreibstil

In Deutschland war die Übersetzung von Anneliese Schütz aus dem Jahr 1950 lange Zeit die kanonische Fassung von "Das Tagebuch der Anne Frank". Die Wortwahl dieser Ausgabe klang jedoch veraltet und traf nicht den modernen, jugendlichen Schreibstil des holländischen Originals. Anne Frank hatte während der zwei Jahre im Versteck eine wachsende Leidenschaft fürs Schreiben entwickelt. Sie besaß die Fähigkeit, ihrem komplexen und widersprüchlichen Innenleben Ausdruck zu verleihen. In ihrem Tagebuch dachte sie viel über sich nach und über den Menschen, der sie später einmal werden wollte.

Wichtiger Hinweis:

"Lasst mich ich selbst sein, dann bin ich zufrieden!"
(Anne Frank, 11. April 1944)

Graffiti am Eingang des Anne Frank Zentrums in Berlin (© Anne Frank Zentrum)

Anne Frank Zentrum

Es ist auch eine Reihe von Beschreibungen von Menschen überliefert, die Anne Frank nahestanden: "Anne war ein bisschen kratzbürstig, aber ein nettes Mädchen. Sie war sehr lebendig“, erinnerte sich Hannah Pick-Goslar, ihre Freundin aus Kindertagen. "Ein aufgewecktes und intelligentes Mädchen (…) mit einem starken Willen, sich weiterzubilden", nannte sie Johannes Kleiman, der die acht Untergetauchten im Hinterhaus versorgte. "Außerdem hatte sie eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe."

"Ich will keine gelben Sterne sehen"

Hans Steinbichlers Film konzentriert sich auf die Jahre 1942 bis 1944, in denen Anne Frank versteckt im Hinterhaus lebte und ihr Tagebuch führte. Eine fiktionalisierte Zum Inhalt: Sequenz zeigt Anne und ihre Freundinnen 1942 am Strand. Eine Gruppe Jungen in der Uniform des "Jeugstorm", der Jugendbewegung des NSB, bedrohen die Mädchen, nachdem sie deren "Judensterne" an den Kleidern gesehen haben. Anne reagiert mutig und stellt sich dem Anführer entgegen. Ein Erwachsener kommt hinzu, vertreibt die pöbelnden Jungen und fordert die Mädchen auf, den Strand zu verlassen.

Die Sequenz ist ein Beispiel dafür, wie der Film den historischen Kontext von Anne Franks Biografie behandelt. Es gibt keine Trennung zwischen der Historie und der privaten Geschichte, etwa durch das Einblenden von historischen Ereignissen. Die Situation der jüdischen Bevölkerung im besetzten Holland ist Teil von Annes Alltagserfahrung. Bei ihrer Geburtstagsfeier am 12. Juni 1942 sagt Anne zu ihren Freundinnen: "Zieht alle Jacken aus, ich will heute keine gelben Sterne sehen." Tatsächlich mussten Juden in den Niederlanden ab Mai 1942 einen sogenannten Judenstern tragen. Die Feier findet in der Wohnung der Franks statt, wo alle zusammen den Film "Rin Tin Tin" schauen, da Juden ab März 1941 der Besuch von Kinos verboten war.

Das Tagebuch der Anne Frank, Szene (© Universal)

Die Rolle von Erinnerungsorten

Die Vermittlung des historischen Kontextes spielt auch eine zentrale Rolle in der Arbeit der Museen, Gedenkstätten und Bildungseinrichtungen, die Anne Frank gewidmet sind. Das Anne-Frank-Haus, das sich an derselben Stelle in der Prinsengracht 263 befindet, an der sich Anne und ihre Familie vor über 70 Jahren versteckten, ist heute der wichtigste Erinnerungs- und Lernort. Hier wurde auch eine Wanderausstellung auf den Weg gebracht, die jährlich in über 300 Städten zu sehen ist. Die Ausstellung informiert über die Geschichte des Holocaust aus der Perspektive von Anne Frank und ihrer Familie. Sie möchte die Erinnerung wachhalten – nicht nur aus menschlichem und historischem Interesse, sondern auch wegen der aktuellen, weltweiten Bedeutung von Toleranz, gegenseitigem Respekt, Menschenrechten und Demokratie.

Die ständige Ausstellung im Berliner Anne Frank Zentrum ist noch stärker biografisch ausgerichtet und erzählt das Leben Anne Franks anhand vieler persönlicher Fotografien. In diesen Erinnerungsstücken formuliert sich die für ein jugendliches Publikum vielleicht wichtigste Frage: Was hat die Geschichte von Anne Frank mit uns zu tun? Die Antworten finden sich in Aussagen aus Annes Tagebuch zu Themen wie Diskriminierung, Krieg und Identität, die auch heutzutage noch in persönlichen und gesellschaftlichen Fragen Orientierung bieten können. Diese dauerhafte Beschäftigung mit Anne Frank ist wichtig, um ihrem Wunsch, den sie am 5. April 1944 in ihrem Tagebuch notierte, auch künftig zu erfüllen: "Ich will fortleben, auch nach meinem Tod."