Regisseur und Drehbuchautor Hans Steinbichler, geboren 1966, gewann mit seinem Spielfilmdebüt "Hierankl" (2003) den Förderpreis Deutscher Film sowie den Adolf-Grimme-Preis. Neben seiner Dozententätigkeit an der Internationalen Filmschule Köln arbeitet Steinbichler auch regelmäßig für das Fernsehen, u. a. als Regisseur der Krimireihe "Polizeiruf 110" . Zuletzt verfilmte er das Leben Kurt Landauers, des jüdischen Präsidenten des FC Bayern München.

Lea van Acken, geboren 1999, hatte ihre erste Hauptrolle in Dietrich Brüggemanns Drama in dem sie die tief religiöse Maria spielte. Der Film gewann auf der Berlinale 2014 den Silbernen Bären. Nach einem Kurzauftritt in der Serie "Homeland" ist die Titelfigur in Zum Filmarchiv: "Das Tagebuch der Anne Frank" bereits ihre zweite große Rolle.

Herr Steinbichler, es gibt viele künstlerische Umsetzungen von "Das Tagebuch der Anne Frank". Welchen Ansatz haben Sie mit Ihrer Zum Inhalt: Verfilmung verfolgt?

Hans Steinbichler: Mir war wichtig, dass sich Jugendliche den Film anschauen und die Geschichte von Anne Frank ohne Vorwissen oder eine vorgefertigte Meinung erleben können. In ihrem Tagebuch schrieb Anne Gedanken und Erfahrungen auf, die zum klassischen Zum Inhalt: Coming-of-Age-Genre gehören. Wir sehen ihr also beim Erwachsenwerden zu.

Lea van Acken: Ich glaube, dass wir Anne auch durch ihre Sprache – sie sagt zum Beispiel Worte wie "okay" – in die heutige Zeit übertragen. Man hat nie das Gefühl, dass sie altmodisch wirkt. Das macht ihre Figur greifbar.

HS: Das Tagebuch klingt vollkommen zeitlos. Annes Gedanken, ihre inneren Konflikte sind immer noch aktuell. Das hat mich letztlich auch am Buch interessiert: Man muss Annes Geschichte Jugendlichen im Alter von Lea nahebringen. Darum bin ich in der Ausarbeitung der Dialoge auch stark auf Leas Intuition eingegangen. Wir haben gemeinsam versucht, in Lea zu finden, was die Persönlichkeit von Anne Frank ausmacht, und sie so ins Jetzt transportiert.

Sie haben die Figur von Anne Frank gemeinsam erschlossen?

LvA: Ich hatte mich vorher mit Anne Frank befasst, ihr Tagebuch gelesen, das Hinterhaus in Amsterdam besucht. Aber wir haben auch während der Dreharbeiten viel über die Rolle gesprochen. Der Dreh war ein Teil des Prozesses. Die Figur ist unsere Interpretation von Anne.

Gab es bei der Fiktionalisierung Grenzen, die Sie nicht überschreiten wollten?

LvA: Der Film hält sich natürlich eng an das Tagebuch, viele Originaltexte wurden übernommen. Wir haben auch gemeinsam Passagen gelesen und anschließend darüber gesprochen, wie Anne in einer bestimmten Situation reagiert hätte. Wir wollten aber keine Pop-Anne erfinden. Es ist schon die intime, persönliche Anne, die man aus ihrem Tagebuch kennt.

HS: Eine Grenzüberschreitung ist der Schlussmonolog, in dem Anne – nachdem ihr das Tagebuch bereits entrissen wurde – den Weg nach Auschwitz beschreibt. Diesen Text habe ich mit Zustimmung des Anne Frank Fonds aus Zeitzeugenberichten zusammengestellt. Wir haben in solchen Fällen keine willkürlichen Entscheidungen getroffen, das entstand immer in Absprache. Eine größtmögliche Authentizität zu gewährleisten war für uns und dem Fonds immer entscheidend. Uns standen ja auch Historiker beratend zur Seite.

Auf welche externen Quellen haben Sie zurückgegriffen?

LvA: Die Buchfassung, die heute im Schulunterricht benutzt wird – die sogenannte Gesamtausgabe -, enthält auch die Passagen, die Annes Vater ursprünglich in der ersten veröffentlichten Fassung des Tagebuchs zensiert hatte. Diese Gesamtfassung war unsere Grundlage. Hinzu kamen viele weitere Quellen, die uns der Anne Frank Fonds durch das Öffnen der Archive der Familie Frank zugänglich gemacht hat. Unter anderem auf diese stützen sich die Passagen, die der Film über das Tagebuch hinaus erzählt.

Und wie hast du dich auf die Rolle vorbereitet?

LvA: Nach der Zusage hatte ich erst mal Respekt, das Buch wieder zu lesen. Ich wollte mir nicht anmaßen, mich in die Gedanken und das Schicksal dieses Mädchens, das ja genauso alt war wie ich, hineinzuversetzen. Darum fing ich an, ihr Briefe zu schreiben, in denen ich von meinem Schulalltag und meiner Familie erzählt habe. Das half mir, die Hemmschwelle abzubauen. Danach konnte ich das Tagebuch wieder lesen. Ich habe auch mit meinen Großeltern über die Zeit gesprochen, die Gedenkstätte Bergen-Belsen besucht und einfach alles aufgeschnappt, was möglich war.

Anne Frank hat in der deutschen Erinnerungskultur an das Dritte Reich einen besonderen Status. Der Film vermeidet ihre Heroisierung.

HS: Wir wollten Annes Geschichte von dieser Emblematik der deutschen Filme über das Dritte Reich entkoppeln. Anne hat diese äußere Bedrohung vor der Flucht ins Versteck direkt miterlebt, im Versteck selbst aber vor allem indirekt erfahren. Die Eltern und eine Helferin wie Miep Gies erzählten ein wenig, manchmal das Radio. Tatsächlich hat Anne aber nichts anderes versucht, als ihre Kindheit weiterzuleben. Im Tagebuch wird ja sehr deutlich, dass sie sich in dieser Situation einrichten musste, nachdem sie dieses Leben als Normalität akzeptiert hatte. Also verliebt sie sich in den einzigen Jungen, der da ist. Schön ist auch diese Hoffnung, wenn sie Margot neugierig über ihre erste Periode ausfragt und die sich dafür gar nicht interessiert. Dabei denkt Anne schon wieder an die Zukunft. Sie will auch eine Frau werden und leben.

Der Film gesteht Anne Frank ihre aufblühende Sexualität zu. Widerspricht das nicht dem Bild, das wir heute von Anne Frank haben?

HS: Der Fonds hatte großes Interesse daran, Anne Frank von einem Podest herunterzuholen. Das, was ihr aufgebürdet wurde, wie Märtyrerin, Philosophin oder gar Junggenie, ist gar nicht in Annes Sinn und eben auch nicht im Sinne des Anne Frank Fonds.

LvA: Ich habe das gemerkt, als ich nach den Dreharbeiten wieder in die Schule zurückgekommen bin. Meine Lehrer und Mitschüler wussten gar nicht, wie sie mit der Tatsache, dass ich Anne Frank spiele, umgehen sollten, so groß war der Respekt. Das darf nicht sein.

Welche Eigenschaften von Anne haben dir am besten gefallen?

LvA: Ich finde ihre Selbstreflexion toll. Mich hat am meisten beeindruckt, wie sie sich selbst analysiert. Wir haben gerade Kant in der Schule durchgenommen, das Thema Selbsterkenntnis, und da finde ich es schon unglaublich, was Anne damals geschrieben hat. Und ihre Beobachtungsgabe, wenn sie ihr Verhältnis zu den Eltern beschreibt.

Ihre Gedanken werden auch durch die direkte Ansprache an das Publikum für Jugendliche besser nachvollziehbar. Haben Sie darum dieses Stilmittel gewählt?

HS: Wir haben einen Kunstgriff gesucht, wie eine Tagebuchvorlage auch als Film funktioniert. Lebt dieser Text also nur auf dem Papier oder kann er auch durch Sprechen vermittelt werden? Darum spricht Lea an einigen Stellen in die Kamera.

LvA: Das Auswendiglernen war einfach. Das Schwierige war, den Text zum Leben zu erwecken. Jemanden mit den Worten anzusprechen.

Warum war es nötig, Anne in der Schlussszene im Konzentrationslager zu zeigen?

HS: Ich bin Lea das erste Mal mit Zöpfen begegnet. Dieses Bild, einen Menschen seiner Haare zu berauben, steht für die Systematik der Entwürdigung und Entmenschlichung. Ich musste dabei an Paul Celans Satz "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland" denken.

Aber können inszenierte Bilder die Unmenschlichkeit in den Konzentrationslagern wirklich vermitteln?

HS: Das Haarescheren ist für mich der Punkt, an dem das gerade noch möglich ist. Wir haben darüber nachgedacht, eine Szene aus dem KZ Bergen-Belsen zu nehmen, aber erzählerisch kann man das nicht adäquat wiedergeben.

Und was sollen Jugendliche aus "Das Tagebuch der Anne Frank" mitnehmen?

LvA: Wohin dumpfe Fremdenfeindlichkeit und Rassismus führen. Und dass jede Generation sich neu mit diesem Thema auseinandersetzen muss.

HS: Wenn sich junge Menschen die Geschichte von Anne Frank durch den Film ganz unvorbelastet ansehen und über ihr Leben und ihren Tod nachdenken, hätten wir schon viel erreicht.