Kategorie: Hintergrund
Mein Freund, das Tier
Tiere bewerten nicht, sondern nehmen den Menschen so an, wie er ist. Dies macht sich die tiergestützte Therapie zu eigen, in der auch autistische Kinder lernen können, mit ihren Mitmenschen in Kontakt zu treten.
Der zehnjährige Mika, der das Asperger-Syndrom hat, ist ein einsames Kind, bis er eines Tages einen unerwarteten Freund findet: das Pferd namens Bucephalus, zu dem er sich sofort hingezogen fühlt. Ohne Scheu legt der Junge schon beim ersten Zusammentreffen seine Stirn an den Kopf des Hengstes, wird ruhig und schöpft Vertrauen. Wie diese Begegnung Mikas Leben verändert, davon erzählt der Film Zum Filmarchiv: "Das Pferd auf dem Balkon" (Hüseyin Tabak, AT 2012) auf einfühlsame Weise. Dass Tiere einen positiven Einfluss auf Kinder mit Kontakt- und Entwicklungsstörungen oder körperlichen Beeinträchtigungen haben, erlebt die Hippo- und Physiotherapeutin Uta Winkler täglich in ihrem Beruf. Ihr Arbeitsplatz befindet sich in einer großen Reithalle, in die sanft das Tageslicht einfällt. Hier läuft das Therapiepferd Pascal, vom Gemüt her freundlich und geduldig, gleichmäßig im Kreis. Runde um Runde. Die Therapeutin sitzt auf dem Pferd hinter der spastisch behinderten Katharina und bewegt behutsam Kopf, Beine und Arme des Mädchens. Katharinas Körperhaltung verändert sich enorm. Ihr sonst starrer Blick ins Leere wird konkret, ihre Augen werden groß und wach. Ihre zu Fäusten geballten Hände lockern sich, die Beine schmiegen sich irgendwann an den Pferdekörper. "Kinder entspannen sich beim Reiten, sie spüren ihren eigenen Körper intensiver", sagt die Therapeutin.
Befreiung durchs Reiten
Tiere erfüllen in Mikas und Katharinas Fall sowie generell bei der tiergestützten Therapie eine wichtige Aufgabe. Sie bilden Brücken und können Vermittler sein. Uta Winklers jüngste Patienten/innen sind gerade vier oder fünf Jahre alt. Je früher eine tiergestützte Therapie beginnt, desto besser, sagt die Hippotherapeutin, die Heilbehandlungen mit speziell dafür ausgebildeten Reitpferden anbietet. Kinder sehen das Reiten nicht als Therapie, an der sie erfahrungsgemäß irgendwann die Lust verlieren, sondern als Beschäftigung, die Spaß macht und motiviert. "Die Kinder empfinden das Sitzen auf dem Pferderücken als Befreiung", sagt Uta Winkler. Das Besondere am Pferd ist ihr schwingender, rhythmischer Gang in alle drei Dimensionen. Er lockert die Muskeln und entkrampft. Die Kinder lernen, aufrechter zu sitzen, ihre Balance zu halten und eine Beziehung mit dem Tier einzugehen.
Mensch und Tier
Die tiergestützte Therapie ist ein relativ junges Feld in der Pädagogik und Psychologie, das Zusammenleben von Mensch und Tier dagegen ein aus evolutionsbiologischer Sicht uraltes bewährtes Prinzip. Ob als Reit- oder Lastentier, es wird ebenso zum Gefährten oder zur Bezugsperson. So wird auch Bucephalus im Film "Das Pferd auf dem Balkon" für Mika zu einem festen Bestandteil seines Lebens; er besucht den Hengst regelmäßig und versorgt ihn mit Futter. Tiere verhelfen allgemein zu einem dynamischeren Alltag mit einem gewissen Rhythmus, denn sie wollen spazieren gehen, gefüttert und bekuschelt werden. Zudem sind Pferd, Hund, Katze und Co. gute und geduldige Zuhörer, die immer Zeit haben und Geheimnisse für sich behalten. Mit dem Tier wird geschmust, es wird zum Freund, um den man sich kümmern muss. Im Zusammenleben mit Tieren lernen Kinder zu vertrauen, Verantwortung und Rücksicht zu übernehmen und entwickeln zudem nicht selten eine größere Naturverbundenheit. Gleichzeitig geht es aber auch darum, die eigenen Bedürfnisse und die des Tieres zu erkennen und zu respektieren. Denn der Alltag mit einem Tier besteht eben nicht nur Kuscheln, Beobachten und Spielen, sondern auch aus Arbeit und Verantwortung. Tiere sind kein Spielzeug, sie haben kontinuierlich Bedürfnisse – nicht nur, wenn das Kind dazu Lust hat. Pädagogen/innen und Therapeuten/innen sind sich insgesamt einig, dass die Zuneigung zum Tier Respekt gegenüber Mitmenschen fördert und dass besonders in der frühen kindlichen Phase, ein Tier eine Brücke zwischen Kind und seiner erlebten Welt sein kann.
Tiere bewerten nicht
Besonders autistische Kinder wie der Filmheld Mika profitieren enorm durch langjährige tiergestützte Therapien, werden emotionaler stabiler und lernen durch das Übernehmen von Verantwortung wieder Kontakte zu anderen zu knüpfen. Ob Hund, Katze, Schaf, Lama oder Pferd: Die Patienten/innen, egal ob Kinder oder Erwachsene, suchen sich idealerweise ihre tierischen Partner selber aus. "Ein ganz entscheidender Punkt ist", sagt Ingrid Stephan, Sozialpädagogin am Institut für soziales Lernen mit Tieren im niedersächsischen Lindwedel, "dass Menschen generell von Tieren nicht bewertet, sondern als authentisch angenommen werden. Die Patienten werden akzeptiert so wie sie sind – eine Erfahrung, die auch Mika mit seinem Pferd macht. Tiere haben im Gegensatz zu vielen Eltern, Therapeuten oder Pädagogen gegenüber dem Kind keine Erwartungshaltung." Die Sozialpädagogin beobachtet in ihren Therapien immer wieder, dass sich die Kinder durch die Tiere gänzlich angenommen fühlen. Sie können unter den tierischen Gefährten ganz sie selber sein und fühlen sich verstanden.
Nähe und Vertrauen
Die Ergebnisse aus der tiergestützten Therapie lassen sich auch auf gesunde Kinder übertragen: Eine Begegnung mit einem Tier ist für alle Kinder ein intensives emotionales Erlebnis, das Geborgenheit, Nähe und Vertrauen schenken kann. Als weiteren Aspekt betont Ingrid Stephan, dass Kinder im Kontakt mit Tieren nicht nach den Normen unserer leistungsorientierten Gesellschaft funktionieren müssen, denen sie manchmal nicht entsprechen können. Auch in Familien mit Trennungshintergrund können Tiere der konstante Faktor sein und helfen Trennungsängste zu überwinden, während in der Pubertät Tiere Heranwachsenden dabei helfen können, sich von den Eltern zu lösen.
Das Tier wirkt wie ein Eisbrecher
Die Hippo- und Physiotherapeutin Uta Winkler beobachtet bei ihren kleinen Patienten/innen, dass sie selbstbewusster werden. "Irgendwann halten sie selber die Zügel und sind wahnsinnig stolz darauf", so Winkler. Beim heilpädagogischen Reiten sind die Interaktionen zwischen den Kindern und Pferden noch intensiver: Die Kinder gehen mit den Vierbeinern auf die Koppel, putzen und füttern, können sie mit allen Sinnen wahrnehmen und mit ihnen kommunizieren. Beziehungs- und kontaktgestörte Kinder scheinen sich alleine schon durch die Anwesenheit eines Tieres zu entspannen und auch die Mutter das Filmhelden Mika sieht, welchen positiven Einfluss das Pferd auf ihren Sohn hat: Am Ende des Films nimmt er Reitstunden. Erlebnisse mit Tieren bereiten Kindern Freude und Erfolgsgefühle und öffnen gewissermaßen Türen zu einem emotionalen Erleben, zu Neugier und Tatendrang. In 20 Jahren Berufserfahrung hat Uta Winkler viele junge Menschen gemeinsam mit dem Therapiepferd begleitet. An einen besonderen Moment erinnert sie sich gerne zurück: "Das Pferd wirkte wie ein Eisbrecher. Der wortkarge, fast stumme autistische Junge hat in der Therapie plötzlich angefangen, auf dem Pferd zu singen und zu klatschen".