Dr. Heidrun Bründel ist Diplom-Psychologin und Expertin für Jugendsuizid. Sie war als klinische Psychologin in einer Kinderklinik und anschließend fast 30 Jahre als Schulpsychologin tätig. Heute arbeitet sie freiberuflich in der Lehrerfortbildung und berät Schulen unter anderem bei der Einrichtung von Suizidprävention und -postvention. Anlässlich des Kinostarts von Zum Filmarchiv: "Close" (Lukas Dhont, BE/FR/NL 2022) hat kinofenster.de mit ihr darüber gesprochen, wie und warum in der Schule Suizid thematisiert werden sollte.

Der Film "Close" von Lukas Dhont behandelt den Suizid eines Jugendlichen – ein Thema, das häufig tabuisiert wird. Warum ist es wichtig, offen darüber zu sprechen?

Dr. Heidrun Bründel: Suizid ist in Deutschland, nach Unfällen, die zweithäufigste Todesart bei Jugendlichen. Laut Bundesamt für Statistik haben sich 2021 in der Altersgruppe der 10- bis 20-Jährigen insgesamt 189 Jugendliche selbst getötet, davon 130 männliche und 59 weibliche Jugendliche. Gleichzeitig gibt es viele Falschaussagen und Mythen über Suizid. Zum Beispiel ist es eine Fehlannahme, dass Jugendliche, die von Suizid reden oder ihn sogar ankündigen, in Wirklichkeit keinen Suizid begehen würden. Es ist auch nicht wahr, dass der Entschluss zum Suizid aus heiterem Himmel kommt, oder dass positive Veränderungen in der Stimmung eines suizidgefährdeten Jugendlichen zeigen, dass die Gefahr vorüber ist. Diese Mythen müssen aus der Welt geschafft werden. Jugendliche und Eltern sollten wissen, dass fast alle suizidgefährdeten Jugendlichen in irgendeiner Weise direkt oder indirekt über ihre psychische Not reden, dass sie verzweifelt sind und sie im Grunde nach Hilfe suchen. Jugendliche müssen erfahren, dass es Hilfe gibt. Denn wenn der Entschluss einmal gefasst ist, dann haben die Angehörigen und die Freunde kaum noch eine Chance es zu erkennen, weil Jugendliche jetzt beginnen, über ihre psychische Verfassung hinwegzutäuschen.

Welche Gründe und Risikofaktoren können dazu führen, dass Jugendliche suizidgefährdet werden?

Dr. Heidrun Bründel: Die Risiken für eine suizidale Entwicklung liegen in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen. In der Familie können Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch, Tod eines Elternteils oder Trennung eine Rolle spielen. In der Schule sind es schlechte Noten, Klassenwiederholung, Schulverweise, Kränkungen oder Demütigungen, zum Beispiel durch Mobbing und Cybermobbing, die zum Suizid führen können. Wenn Freundschaften zerbrechen, stürzt für viele Jugendliche die Welt zusammen. Trennungserfahrungen und Liebesabbrüche sind stark belastende Faktoren, wie auch Ausschlüsse aus der Peergroup. Sowohl die Geschlechtsrolle als auch die sexuelle Orientierung stellen Risikofaktoren dar. Homosexualität ist auch heute noch unter vielen Jugendlichen ein großes Tabu, verbunden mit der Angst, gemobbt, isoliert und ausgeschlossen zu werden. Es gibt Anlässe und Ursachen. Unter Anlässen werden auslösende Faktoren wie singuläre Ereignisse verstanden. Diese wirken oft wie ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das heißt, Anlässen können auch häufig Ursachen zugrunde liegen, zum Beispiel sich entwickelnde Depressionen.

Gibt es bestimmte Alarmsignale, die helfen können, eine Suizidgefährdung zu erkennen und rechtzeitig zu intervenieren?

Dr. Heidrun Bründel: Alarmsignale gibt es, aber sie werden nicht immer als solche erkannt. Oft werden sie von Eltern als vorübergehende Pubertätserscheinung interpretiert und damit verharmlost. Zu den verbalen Alarmsignalen gehören Sätze wie: "Ich mag nicht mehr", "Es ist alles so sinnlos", "Ich will nur noch weg". Zu den nonverbalen zählt ein verändertes Verhalten der Jugendlichen: Sie ziehen sich immer mehr zurück, lösen ihre Freundschaften aktiv auf, verschenken liebgewordene Besitztümer, geben ihre Hobbys auf, beschäftigen sich gedanklich mit Tod und Sterben und bereiten geeignete Suizidmethoden vor.

Wie kann Suizidprävention an Schulen konkret aussehen?

Dr. Heidrun Bründel: Suizidprävention in der Schule sollte in einem längeren Unterrichtsprojekt besprochen werden und darf sich nicht auf ein bis zwei Stunden Unterricht beschränken. Sie muss sorgfältig vorbereitet und gut in den Unterricht eingebettet sein. Von großer Bedeutung ist, dass mehr und intensiver über erfolgreiche Konflikt- und Bewältigungsstrategien gesprochen wird als über das vorherige intensive Leid eines Suizidgefährdeten. Ziel der Suizidprävention ist, die Lebenskompetenz der Jugendlichen und ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Kränkungen zu steigern. Sie müssen lernen, mit Stress umzugehen, Konfliktlösungen zu erarbeiten, Freunde zu finden und zu behalten. Sehr wichtig ist, den Jugendlichen zu vermitteln, wie sie Suizidsignale erkennen und wo sie sich Hilfe holen können. Hilfreich dafür steht der Begriff "ABS" (Anti-Blockier-System): Das A steht für, "Achte auf Warnsignale", das B für "Bleib in Verbindung" und das S für "Sag es Erwachsenen".

Wie kann die Schule Jugendlichen helfen, die vom Suizid eines Mitschülers oder einer Mitschülerin betroffen sind?

Dr. Heidrun Bründel: Wichtig ist, sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Jugendlichen zu orientieren. Sie sollen selbst entscheiden, wann, wo und wie sie trauern möchten, in der Klassengemeinschaft oder individuell in einem dafür eingerichteten Trauerraum der Schule. Die Trauerarbeit oder Postvention mit der betroffenen Klasse kann nicht sensibel genug durchgeführt werden. Den Jugendlichen sollte vor allem "Psychische Erste Hilfe" gegeben werden, das heißt Trost und Respekt im Umgang mit ihnen. Von großer Bedeutung sind Fürsorge und Verständnis für unterschiedliche Trauerreaktionen. Geduld und Ermutigung, sich gegenseitig zu unterstützen, sind vorrangig.

Die Frage, ob und wie Suizid in Filmen, Serien oder literarischen Werken dargestellt werden sollte, ist umstritten. Kritiker/-innen warnen vor allem vor dem sogenannten "Werther-Effekt". Worum handelt es sich dabei?

Dr. Heidrun Bründel: Dabei geht es um die Nachahmung von Suiziden aufgrund von Identifikation mit der betreffenden Person. Man bezeichnet so die Fälle von Suiziden, die sich im Anschluss an die Lektüre von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther gegen Ende des 18. Jahrhunderts ereignet haben. Im 20. Jahrhundert untersuchten Forscher und Forscherinnen den Einfluss einer Fernsehsendung, "Tod eines Schülers" (Claus Peter Witt, DE 1980, Anm. d. Red.), auf nachfolgende Suizide unter Jugendlichen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass es einen Anstieg der Suizide um 175 Prozent bei männlichen und um 167 Prozent bei weiblichen Jugendlichen gab. Ein ähnlicher Effekt ergab sich nach dem Tod des Fußballers Robert Enke im Jahr 2009. Ich könnte noch viele weitere Beispiele anführen, die alle belegen, dass es diesen Nachahmungseffekt gibt. Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum sich Schulen davor scheuen, das Thema Suizid anzusprechen.

Gibt es konkrete Anhaltspunkte oder Kriterien, die Lehrer/-innen oder andere Pädagog/-innen beachten sollten, wenn sie überlegen, mediale Repräsentationen von Suizid wie beispielsweise im Film "Close" in der Bildungsarbeit zu nutzen?

Dr. Heidrun Bründel: Es gilt ganz allgemein der Grundsatz, mehr auf Hilfe und Unterstützungsmöglichkeiten einzugehen als auf die Trauer oder die Verzweiflung desjenigen, der sich suizidiert hat. Wenn im Deutschunterricht Goethes Werther gelesen wird, dann könnte das ein Anlass sein, um auf die Komplexität des Themas Suizid einzugehen. Aber man sollte immer wieder die Bedeutung der Resilienz herausstellen, das heißt die Fähigkeit, mit Konflikten und Kränkungen umzugehen.

Sehen Sie in der Art, wie der Film "Close" Suizid behandelt, mögliche Risiken oder Problematiken?

Dr. Heidrun Bründel: Risiken sehe ich nicht, denn Rémi als Identifikationsperson bleibt ja eher im Hintergrund. Gut ist auch, dass seine Suizidmethode nicht erwähnt wird. Deutlich wird zwar seine Kränkung darüber, von Léo übersehen und ignoriert zu werden, aber im Vordergrund des Films steht Léo, und zwar sein Leiden am Tod des Freundes, ebenso wie der Schmerz von Rémis Eltern. Das zeigt, wie wichtig es ist, Verantwortung für seine Freunde zu übernehmen.

Welche Anlaufstellen gibt es für Jugendliche, die entweder selbst Suizidgedanken haben oder sich Sorgen um einen Freund oder eine Klassenkameradin machen?

Dr. Heidrun Bründel: In allen Bundesländern und fast allen Kommunen gibt es Anlaufstellen, an die sich Jugendliche wenden können, zum Beispiel Erziehungs- und Familienberatungsstellen, Schulpsychologische Beratungsstellen. Jugendliche werden jedoch oft als "beratungsaversiv" bezeichnet, weil sie mit ihren Problemen selbst fertig werden und keine externen Hilfen annehmen wollen. Um die Hemmschwelle zu senken, könnten die Namen der dortigen Mitarbeiter den Jugendlichen bekanntgemacht werden. Mitschüler, die sich Sorgen um einen suizidgefährdeten Freund machen, sollten in erster Linie mit ihren Eltern und gegebenenfalls mit einer Beratungslehrkraft der Schule darüber sprechen. Besteht jedoch eine akute Suizidgefährdung, dann müssen die Eltern des suizidgefährdeten Schülers eingeschaltet werden, damit diese eine Beratungsstelle aufsuchen und professionelle Hilfe erhalten.Darüber hinaus gibt es gute Online-Angebote, zum Beispiel Zum externen Inhalt: www.youth-life-line.de (öffnet im neuen Tab) oder Zum externen Inhalt: www.neuhland.net (öffnet im neuen Tab). Diese Angebote können niedrigschwellig, anonym und kostenfrei genutzt werden.