Kategorie: Hintergrund
Langzeitbiografien – Groß werden in Film und Fernsehen
Langzeitbiografien gibt es schon länger, doch kaum im Kino. Ein Überblick über TV-Serien, Langzeitdokus und den cineastischen Sonderfall François Truffaut.
Biografisches Erzählen, bevorzugt in der Form des Zum Inhalt: Biopics, ist beliebt. So sieht sich das Medium Film dem Anspruch ausgesetzt, den natürlichen Lebenslauf so getreu wie möglich abzubilden. Dieser Anspruch stößt jedoch schnell an technische Grenzen, denn dass Hauptdarsteller/innen – wie im Fall von Zum Filmarchiv: "Boyhood" (Richard Linklater, USA 2014) – über Jahre für eine Spielfilmproduktion zur Verfügung stehen, ist nicht die Regel. Gelöst wird dieses Problem durch den oft sogar mehrfachen Austausch der Kinderdarsteller/innen und das Mittel der Zum Inhalt: Maske. Das mehr oder weniger gelungene Make-up vermittelt optisch den "Zahn der Zeit". Die eigentliche Sensation des Älterwerdens hingegen bleibt dem Kinopublikum vorenthalten.
Wichtige Vorläufer: Familien- und Endlosserien
Das Alltagsmedium Fernsehen hat hier seit jeher die besseren Möglichkeiten. Langsame, das Leben begleitende Erzählformen, vor allem Familienserien, gehören seit der frühen Nachkriegszeit zum Standardrepertoire. Aus ihnen spricht der Wunsch, das Leben gewöhnlicher Menschen so zu zeigen, wie es ist. Die erste deutsche TV-Familienserie "Unsere Nachbarn heute abend – Familie Schölermann" (1954-60) brachte es auf 111 Episoden, gefolgt von der schon aus dem Radio bekannten Serie "Die Familie Hesselbach" (1960-67). In Großbritannien wurde die bis heute laufende ITV-Serie "Coronation Street" stilprägend: Die in einer fiktiven Industriestadt angesiedelte Serie verfolgt die Schicksale mehrere Familien und Personenkreise – und ihre unzähligen Verwicklungen untereinander – seit fünf Jahrzehnten. Unter anderem war sie auch Vorbild für Hans W. Geißendörfers "Lindenstraße" (seit 1985), geradezu eine deutsche Fernsehinstitution.
Älterwerden in Serie
Nicht zuletzt bieten solche Serien die Möglichkeit, vertrauten Menschen beim Älterwerden zuzusehen. Nahezu jede/r weiß, wie "Benni Beimer" als Kind aussah; gelegentlich reicht die beobachtbare Zeitspanne bis zum Tod oder dem Ausscheiden eines/r Darstellers/in als Seriencharakter. Die Präsenz in Boulevardmedien trägt weiter dazu bei, die TV-Fiktion mit dem "echten Leben" in eins zu setzen – ein Mechanismus, den neuere Formate wie Doku-Soap oder Reality-TV begierig ausschlachten.
"Was geht euch mein Leben an?" – Die Langzeitdokumentation
Einen anderen Blick erlaubt die sogenannte Zum Inhalt: Langzeitdokumentation. Im wahrsten Sinne Pionierarbeit leistete hier das DDR-Fernsehen mit "Die Kinder von Golzow" (1961-2007). Das von Barbara und Winfried Junge betreute Projekt beobachtete 18 Kinder einer Schulklasse vom ersten Schultag bis weit über die Wiedervereinigung hinaus. Der Ideengeber Karl Gass versprach seinerzeit: "Das wird das Porträt einer in einer sozialistischen Gesellschaft aufwachsenden Generation: Schule, Lehrer, Lehre, Studium, Beruf, Partnerwahl, Kinder …" Und so kam es. Aus Kindern wurden Erwachsene mit Berufen wie Grenzsoldat, Landmaschinenschlosser, Bauingenieurin. Nicht alle, aber manche erlebten den Mauerfall als biografischen Bruch, zogen in den Westen oder wurden arbeitslos. Die für ihre sensible Herangehensweise und Authentizität gerühmte Reihe wurde nun im Kino fortgeführt mit Titeln wie "Was geht euch mein Leben an – Elke, Kind von Golzow" (1996/97) oder "Eigentlich wollte ich Förster werden – Bernd aus Golzow" (2002).
"7 Up" – Vorbestimmte Lebensläufe?
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt seit 1964 die international bekanntere "The Up-Series" . Das Ziel der ITV- und BBC-Produktion war von Beginn an deutlich sozialkritisch: ein Vergleich von 14 Lebensläufen im Rahmen des britischen Klassensystems. Die "erwarteten" Ergebnisse traten mehr oder weniger ein. Kinder der Oberschicht wurden Juristen und Rechtsanwälte, Kinder der Arbeiterklasse Taxifahrer oder Hausfrauen, oft in instabilen Lebensverhältnissen. Ein klassischer Elite-Schüler hingegen wurde selbst Dokumentarfilmer und wandte sich gegen die Serie. Wie er entwickelten einige Teilnehmer, als die "7 Up-Kids" prominent im ganzen Land, eine bekennende "Hassliebe" zu dem Format, verweigerten sich über Jahrzehnte, um etwa in der bisher letzten Folge "56 Up" (2012) als Überraschungsgäste wieder aufzutauchen. Regisseur Michael Apted äußerte sich zuletzt erleichtert darüber, dass sich der Fokus der Serie vom Politischen hin zum Persönlichen entwickelt habe.
Erwachsenwerden im Kino: Harry Potter & Co.
Im Kino sind es die Schauspieler/innen, deren Werdegang wir verfolgen, bei Kinderdarstellern/innen oft ein Leben lang. "Boyhood" selbst erlaubt sich eine gelungene Anspielung auf das Harry-Potter-Phänomen mit seinen sieben Verfilmungen, in deren Verlauf man die Darsteller Daniel Radcliffe und Rupert Grint sowie die Schauspielerin Emma Watson von schüchternen Kindern zu selbstbewussten Jugendlichen heranreifen sah. Doch solche Beispiele sind selten. Das schönste lieferte lange zuvor, und dabei keineswegs geplant, das französische Kino.
François Truffaut und Antoine Doinel: Ein Leben als Filmzyklus
Jean-Pierre Léaud war 14 Jahre alt, als François Truffaut ihn für sein Debüt (Les Quatre Cents Coups, Frankreich 1959) entdeckte. Der Film über ein aufsässiges Stadtkind aus zerrüttetem Elternhaus begründete nicht nur die Nouvelle Vague, sondern eine künstlerische Symbiose: Die Biografien des Regisseurs, des Darstellers und der Filmfigur Antoine Doinel glichen sich auf so frappierende Weise, dass Truffaut immer wieder auf seinen Ziehsohn zurückkam. In einem Zeitraum von 20 Jahren bildeten insgesamt fünf Filme einen ganzen "Antoine-Doinel-Zyklus". In Abkehr vom ursprünglichen Realismus wurde darin humoristisch Antoines Liebesleben weiterentwickelt. Erzählt in flott geschnittenen Vignetten einer unsteten Existenz, zeigen etwa die weiteren Teile "Geraubte Küsse" (Baisers volés, 1968) und "Tisch und Bett" (Domicile conjugal, 1970) Antoines Ringen mit absurden Berufen und unglücklichen Frauengeschichten. Analog zur episodischen Form moderner Sitcoms entsteht die Komik daraus, dass Antoine nicht hinzulernt. Für ein Menschenleben durchaus nicht unrealistisch, wiederholt er im Gegenteil immer wieder dieselben Fehler. Die Rolle des ewigen Träumers wurde zum Charakteristikum Jean-Pierre Léauds. Mittlerweile 70 Jahre alt, wird er für sein Publikum nie ein anderer sein als Antoine Doinel.
"Boyhood" : eine Mischung der Genres
Mit "Boyhood" fand Richard Linklater zu einer einzigartigen Mischform dieser scheinbar heterogenen Ansätze. Das langsame Erzähltempo, eine dokumentarische Anmutung und ein wenig "scripted reality", also Fiktion, suggerieren das vollständige Bild eines jungen Menschen, in dessen Gesicht wir das Vergehen der Zeit sehen wie in unser aller Leben. Tatsächlich hätte sich der Werdegang des jungen Mason in jedem der genannten Formate erzählen lassen – oder ließe sich in diesen fortsetzen, als moderne HBO-Serie in endlosen Staffeln, als Langzeitdokumentation mit regelmäßigen Interviews oder mit mehreren Spielfilmen im Sinne Truffauts. Die zunehmende Verschränkung von Spiel- und Dokumentarfilm deutet jedoch darauf hin, dass gerade in solch hybriden Mischformen die Zukunft liegt.