Im Alter von etwa 13 Jahren geht James Baldwin regelmäßig ins Kino. Es sind die 1930er-Jahre, der Tonfilm hat sich gerade etabliert und es beginnt die "Goldene Ära" des klassischen Hollywood, seine kommerziell erfolgreichste Phase. Wie man im Essayfilm Zum Filmarchiv: "I Am Not Your Negro" (Raoul Peck, FR/USA/BE/CH 2017) über Baldwin erfährt, wird er meist von seiner weißen Lehrerin Orilla Miller (genannt "Bill") ins Theater und Kino mitgenommen. Sie will den interessierten Jungen fördern. Doch die Welt seiner Familie erkennt Baldwin auf der Leinwand nicht wieder: Afroamerikaner/-innen gibt es in diesen Filmen nicht – oder wenn doch, dann höchstens in kleinen Nebenrollen, als Dienstpersonal der Hauptfiguren. "Heldinnen und Helden, soweit ich das damals sehen konnte, waren weiß", schreibt er später in seinem Kino-Essay The Devil Finds Work (1976). "Und zwar nicht bloß wegen der Filme, sondern wegen des Landes, in dem ich lebte und das die Filme nur widerspiegelten."

Hollywood-Filme im Blick eines Schwarzen Kritikers

Baldwin wird 1924 in New York geboren. Als ältestes von neun Kindern und in ärmlichen Verhältnissen wächst er im afroamerikanischen Stadtteil Harlem auf, damals, auch in der Sprache seiner Bewohner/-innen, ein "Ghetto". Die einzige (weiße) Schauspielerin jener Zeit, die ihn an eine Schwarze Frau und damit auch an ein Stück Realität erinnert habe, sei Sylvia Sidney gewesen. Sidney spielt etwa in Filmen des deutschen Regisseurs Fritz Lang wie "Blinde Wut" ("Fury" , USA 1936) oder "Gehetzt" ("You Only Live Once" , USA 1937) Frauen mit tragischen Leidensgeschichten: "Sie wurde immer verprügelt, schikaniert, weinte ständig." In dem Buch The Devil Finds Work, das in "I am Not Your Negro" mehrfach zitiert wird, nimmt Baldwin vor mehr als 40 Jahren heutige Debatten über Rassismus im Film vorweg. Er weist nach, wie die Machtordnung der Gesellschaft den Filmerzählungen eingeschrieben ist; wie eine diskriminierende oder klischeehafte Repräsentation schwarzer Menschen auch in Bildern steckt, die vermeintlich harmlose Liebes-, Kriminal- oder Abenteuergeschichten (Glossar: Zum Inhalt: Genre) erzählen.

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Besonders kritisch blickt er auch auf einige der ersten Hollywood-Filme, in denen afroamerikanische Schauspieler/-innen wie Sidney Poitier mitwirken und die "in guter Absicht" (Baldwin) im Konflikt zwischen Weißen und Schwarzen vermitteln sollen. Gedreht wurden solche Filme wie "Flucht in Ketten" ("The Defiant Ones" , Stanley Kramer, USA 1958) oder "In der Hitze der Nacht" ("In The Heat Of The Night" , Norman Jewison, USA 1967) zunächst ausschließlich von weißen, politisch liberalen Regisseuren. In Poitier, dem ersten afroamerikanischen Oscar®-Preisträger für die beste Hauptrolle ("Lilien auf dem Felde/Lilies of the Field," Ralph Nelson, USA 1963), sieht Baldwin einen Performer der "black experience" – der allerdings meist gegen naive, unglaubwürdige Storys "anspiele". Ein Beispiel: In "Flucht in Ketten" überwinden ein weißer und ein Schwarzer Häftling ihren gegenseitigen Hass, als wäre der Hass eines weißen Rassisten, vor dem Hintergrund der Sklaverei und fortdauernder Ungleichheit, so einfach zu verzeihen. Am Ende springt Poitiers Figur auf der Flucht vom rettenden Zug herunter, um seinen Kameraden nicht allein der Polizei zu überlassen. Das weiße Publikum, schreibt Baldwin, applaudierte; Zuschauer/-innen in Harlem schrien hingegen die Leinwand an: "Spring zurück auf den Zug, du Idiot!"

Vermittelnde Stimme des Civil Rights Movement

Baldwin selbst verkehrt zeit seines Lebens zwischen diesen Welten. In der Bronx macht er seinen Highschool-Abschluss auf einer mehrheitlich weißen Schule, lebt danach weiter in Harlem, bevor er 1948 nach Frankreich auswandert; auch dort schreibt er über die Situation der Schwarzen in den USA. Nach seiner zeitweiligen Rückkehr wird er in den 1960er-Jahren ein prägender Intellektueller des Civil Rights Movement, tritt in TV-Talkshows auf, trifft Politiker. 1963 plädiert er mit einer afroamerikanischen Delegation beim Justizminister Robert Kennedy für Bürgerrechte; der lässt seine Gäste anschließend vom FBI überwachen. Baldwin ist mit schwarzen Aktivisten und Künstlerinnen wie Nina Simone befreundet, aber auch mit weißen Prominenten wie Marlon Brando.

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Der Essayfilm Zum externen Inhalt: "I Am Not Your Negro" (öffnet im neuen Tab)

Als Schriftsteller bleibt er eine individuelle Stimme, schreibt, egal ob fiktional oder nicht-fiktional, stets aus einer subjektiven, beteiligten Perspektive. In The Fire Next Time (1963; deutsch: Nach der Flut das Feuer) adressiert er in einem Essay seinen jugendlichen Neffen mit der Erkenntnis, dass "du in eine Gesellschaft hineingeboren wurdest, die dich, […] auf so vielen Wegen wie möglich, zu einem wertlosen Menschen erklärt hat." Die Form des autobiografischen Essays hat viele Nachfolger/-innen gefunden, nicht zuletzt den aktuellen US-Autoren Ta-Nehisi Coates. Trotz des düsteren Blicks auf Rechte, Chancen und Lebensbedingungen für die schwarze Minderheit, sieht Baldwin einen Ausweg nur im Dialog. Eine separate "black nation" auf dem Staatsgebiet der USA, wie es sein Zeitgenosse Malcolm X und die militante Nation of Islam fordern, lehnt er ab. Genauso kehrt er aber auch die Idee, dass man als Afroamerikaner/-in für gesellschaftliche Teilhabe integriert werden müsse, ins Gegenteil. Nicht das Schwarze, sondern das weiße Amerika müsse akzeptiert und integriert werden, damit es endlich seine tiefsitzende Angst und seine gewaltsame Vergangenheit konfrontieren könne.

Im Geiste Baldwins: Die Romanadaption "Beale Street"

Mit Zum Filmarchiv: "Beale Street" (USA 2018) hat Barry Jenkins nach seinem Oscar®-Erfolg Zum Filmarchiv: "Moonlight" (USA 2016) nun die erste Zum Inhalt: Adaption eines Romans von James Baldwin realisiert. Die Geschichte des jungen Paars Tish und Fonny im New York der 1970er handelt zu gleichen Teilen von Polizeiwillkür und strukturellem Rassismus sowie von Liebe und Solidarität in der afroamerikanischen Community. Jenkins fühlt sich dem Erbe des Schriftstellers verpflichtet, er bleibt nah an der Vorlage If Beale Street Could Talk (1974; deutsch: Beale Street Blues): Auch der Film erzählt per Zum Inhalt: Voiceover aus Tishs Perspektive, viele Passagen sind wörtlich übernommen, das Figurenensemble und die verschachtelte Zum Inhalt: Rückblenden-Struktur bleiben erhalten. Kleine, aber bedeutsame Änderungen in der ersten und letzten Zum Inhalt: Szene sowie die immer etwas schwelgerische Zum Inhalt: Inszenierung des Liebespaars geben dem Film eine hoffnungsvollere Note.

Beale Street, Szene (© DCM)

" Zum Inhalt: "Es gibt einen Mangel an schwarzen Geschichten"Es gibt einen Mangel an Schwarzen Geschichten", findet Jenkins noch immer. "Beale Street" zeigt deshalb auch in seiner Form ein Bewusstsein für die von Baldwin kritisierte Bildpolitik Hollywoods. Jazz, Soul und Blues auf dem Soundtrack (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik), stilisierte Großaufnahmen (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) der Gesichter, Blicke der Schauspieler/-innen in die Kamera – als würde der Film sagen wollen: Dies ist eine schwarze Geschichte über Amerika. Oder in Baldwins Worten: "Die Geschichte der Schwarzen in Amerika ist die Geschichte Amerikas."

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