Kategorie: Filmbesprechung
"Herr Bachmann und seine Klasse"
Dokumentarfilm über eine 6. Klasse in einer hessischen Kleinstadt und darüber, was "guten" Unterricht ausmacht
Unterrichtsfächer
Thema
Dieter Bachmann entspricht äußerlich nicht dem Prototyp eines Lehrers. Der Hesse trägt T-Shirts mit den Logos von Hardrock-Bands und in der Regel eine Wollmütze. Auch sein Sprachduktus kommt ohne autoritären Unterton aus. Trotzdem funktioniert der Unterricht in der Klasse 6b an der Georg-Büchner-Schule im hessischen Stadtallendorf. Selbstverständlich ist das nicht, denn die Schülerinnen und Schüler bilden eine heterogene Lerngruppe: Einige Kinder sind erst wenige Monate in Deutschland und haben noch Probleme mit dem Wortschatz und der Grammatik. Andere sind schon länger hier oder wurden in Deutschland geboren. Dieter Bachmann betrachtet die unterschiedlichen Kompetenzstände nicht als Manko, sondern nutzt beispielsweise die positive Verstärkung, um Kinder individuell zu fördern, und sorgt innerhalb des Klassenraums dank klarer Regeln und intensiver Beziehungsarbeit für eine Atmosphäre, in der Kinder gemeinsam gern für den Übergang in die Oberstufe lernen. Als wichtiges Ritual hat Bachmann das gemeinsame Musizieren etabliert. Dies stärkt den Klassenverband und funktioniert trotz kognitiver und sprachlicher Unterschiede.
Ein halbes Jahr hat Regisseurin Maria Speth die Klasse 6b für ihren Zum Inhalt: Dokumentarfilm begleitet. Die statische Kamera (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) scheint längst zum Schulinventar zu gehören, sie ist im Unterrichtsalltag sowie in Elterngesprächen präsent. Aufgrund des Verzichts auf Interviews und das erklärende Zum Inhalt: Voice-Over zugunsten eines beobachtenden Kamerablicks ordnet sich Herr Bachmann und seine Klasse in die Tradition des Direct Cinema ein. So liegt der Fokus auf der Interaktion zwischen Kindern und Lehrenden. Dabei wird deutlich, wie wichtig das Reden ist. Bevor der Fachunterricht losgeht, werden persönliche Befindlichkeiten geklärt. Mit klassischer Fachdidaktik hat das nichts zu tun, aber es ermöglicht, dass sich die Kinder auf die Unterrichtsinhalte überhaupt einlassen und konzentrieren können. Darüber hinaus stärkt es das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler in sich selbst und als Teil der Lerngruppe – aber ebenso das Vertrauen in ihren Lehrer.
Das zentrale Thema des Films stellt die Frage dar, was "guten" – das heißt funktionalen – Unterricht auszeichnet. Somit eignet sich der Film nicht nur für den Einsatz in der Schule, sondern ebenso in der Lehrer/-innen-Ausbildung. Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie hat in seiner Meta-Studie „Visible Learning – Lernen sichtbar machen“ herausgearbeitet, dass die Persönlichkeit der Lehrenden eines der wichtigsten Kriterien für guten Unterricht darstellt. Anhand der Unterrichtspraxis von Dieter Bachmann wird deutlich, dass es in erster Linie bedeutet, die Kinder dort abzuholen, wo sie sich fachlich oder sprachlich befinden. Ebenso lassen sich – auch gemeinsam mit Schüler/-innen im Ethik- oder Sozialkunde-Unterricht – wichtige Faktoren ableiten, die in den Unterrichtsalltag übernommen werden können, etwa ein klares Regelsystem, das einander Zuhören und die Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler, aktiv am eigenen Lernfortschritt zu arbeiten. Zugleich offenbart der Film auch neuralgische Punkte des deutschen Bildungssystems: Die Beziehungsarbeit ist ab einer bestimmten Klassengröße nicht mehr möglich. Auch eine andere Frage bleibt aufgrund der grundsätzlich am Unterrichtsgeschehen interessierten Kinder offen: Wie gehen Lehrende damit um, wenn einigen Kindern aufgrund ihrer individuellen Biografie die intrinsische Motivation komplett fehlt?