Kategorie: Filmbesprechung
"Freistatt"
Schicksal eines 14-Jährigen in einer Erziehungsanstalt im Kontrast zu den Umbrüchen der Außenwelt
Unterrichtsfächer
Thema
Deutschland, 1968. Der 14-jährige Wolfgang erleidet in einem Heim für schwer erziehbare Jungen ein schreckliches Martyrium. Sein herrischer Stiefvater hat ihn dorthin abgeschoben, die Mutter war zu schwach, es zu verhindern. In der Einrichtung herrscht ein Klima von Unterdrückung und permanenter Angst. Unter den Jungen gibt es eine Hierarchie, in die sich Wolfgang nicht einfügen will. Tagsüber müssen sie im Moor Zwangsarbeit verrichten und schon bei geringfügigen Vergehen drohen ihnen Schläge und Essensentzug. Trotz der drakonischen Strafen versucht Wolfgang, aus der Anstalt auszubrechen. Ihm gelingt die Rückkehr zu seiner Mutter, doch die brutale Behandlung hat tiefe Spuren hinterlassen.
"Freistatt" basiert auf wahren Begebenheiten und arbeitet die unmenschlichen Zustände in westdeutschen Erziehungseinrichtungen in den 1960er-Jahren auf. Regisseur Marc Brummund schildert den Machtmissbrauch, die seelischen Grausamkeiten und die körperlichen Züchtigungen mit teilweise erschütternden Details. Parallel zum politischen Aufbruch mit Studentenprotesten und sexueller Revolution lebten in den westdeutschen Erziehungsanstalten die autoritären 1950er-Jahre fort. Brummund unterstreicht die unterschiedlichen Lebenswelten im Film mit visuellen Kontrasten: Die bedrückende Heim-Atmosphäre ist in matten Farben (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) gehalten, die Außenwelt leuchtet in sommerlichen Sepia-Tönen. Auch musikalisch arbeitet "Freistatt" mit Gegensätzen: Der Zeitgeist der rebellischen Jugend vermittelt sich in Popsongs (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik), das Elend der Anstalt in melancholischen Celloklängen.
Mit einer starken jugendlichen Identifikationsfigur führt "Freistatt" an ein dunkles, wenig bekanntes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte heran. Das Schicksal Wolfgangs steht exemplarisch für ein rigides Resozialisierungssystem, unter dem bis 1975 über 800.000 Kinder und Jugendliche litten. Vor diesem Hintergrund regt der Film zum Nachdenken über den Umgang mit vermeintlich schwer erziehbaren Jugendlichen und die Aufgaben von Erziehungseinrichtungen an. Auch bietet sich ein Vergleich zwischen west- und ostdeutschen „Besserungsanstalten“ an. Am Regime des sadistischen Heimleiters lassen sich zudem die Auswirkungen einer autoritären Erziehung aufzeigen. Daraus ergibt sich im Sozialkunde-Unterricht etwa die Frage nach alternativen pädagogischen Konzepten. Zudem thematisiert der Film die problematische Rolle der Kirche, die unter dem Deckmantel christlicher Werte die Misshandlung der Kinder mitverantwortete.