Kategorie: Interview
"Wir waren immer gespannt, wie es weiter geht in seinem Leben"
kinofenster.de hat Tine Kugler und Günther Kurth über ihre Langzeitbeobachtung "Kalle Kosmonaut" befragt.
Tine Kugler und Günther Kurth gründeten 2007 die KMOTO Medienproduktion in München, um gemeinsam als Zum Inhalt: Regie-Duo unabhängig Filme zu produzieren. Für ihren Zum Inhalt: Dokumentarfilm Zum Filmarchiv: "Kalle Kosmonaut" begleiteten sie den Berliner Jungen Pascal über einen Zeitraum von 10 Jahren beim Erwachsenwerden mit der Kamera. kinofenster.de hat mit den beiden Regisseur/-innen über das Langzeitprojekt gesprochen.
kinofenster.de: Wie haben Sie Kalle kennengelernt?
Tine Kugler: Wir haben 2011 einen Film für das ZDF gemacht, zum Thema "Schlüsselkinder", die sich ohne Betreuung selbstständig durch den Alltag bewegen. Damals haben wir unter anderem auch mit Kalle gesprochen. Als die Dreharbeiten vorbei waren, war für uns schon bald klar, dass wir weiter mit ihm drehen wollten, weil wir uns so gut verstanden haben und ihn sehr mochten. Irgendwann haben wir dann gemeinsam mit seiner Mutter beschlossen, sein Leben weiter zu begleiten.
Günther Kurth: Kalle hat uns früh signalisiert, dass wir von ihm noch viel erfahren können. Er war von Anfang an ein starker Protagonist, weil er so offen und ehrlich über sich erzählt hat – das war sehr ungewöhnlich für einen damals erst 10-jährigen Jungen.
kinofenster.de: Was war die ursprüngliche Intention hinter dem Projekt?
Tine Kugler: Unser Ziel war es, sein Erwachsenwerden zu begleiten, bis er 18 ist. Als er dann ins Gefängnis kam für fast drei Jahre, haben wir entschieden, danach noch weiter zu drehen. Wir wollten den Film nicht mit dem Knast enden lassen. So sind es dann am Ende zehn Jahre geworden.
kinofenster.de: Sie haben einerseits ein sehr persönliches Verhältnis zu Kalle, mussten als Filmschaffende aber zugleich auch professionell mit schwierigen Situationen in Kalles Leben umgehen. Wie sind Sie mit dem Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz umgegangen?
Tine Kugler: Es war anders als bei einem journalistischen Beitrag, wo es wichtig ist, dass man Distanz wahrt. Uns ging es eher um das Eintauchen in die Welt eines anderen Menschen und das hat ganz viel mit Vertrauen zu tun. Um jemanden mit einem Dokumentarfilm gerecht werden zu können, muss man eine enge Bindung aufbauen. Kalle ist unser Protagonist, er ist über die Jahre aber auch ein Freund geworden. Wir haben den Film mit ihm gemacht, nicht über ihn.
kinofenster.de: Gab es trotzdem Momente im Film, wo Sie das Gefühl hatten, das Projekt lieber abzubrechen, weil die Gefahr bestand, dass Kalle bloßgestellt wird?
Günther Kurth: Ans Abbrechen haben wir eigentlich nie gedacht, eher, dass wir eine große Verantwortung haben. Es gab Situationen, in denen er tatsächlich nicht drehen wollte, das muss man ehrlich sagen. Aber auch er wollte das Projekt nie abbrechen. Ich glaube, er hat uns vertraut. Die eigentliche Arbeit begann im Zum Inhalt: Schnitt. Da haben wir viel Zeit gebraucht, um die richtige Balance zu finden und so Kalle gerecht zu werden. Daran haben wir über ein Jahr gearbeitet.
Tine Kugler: Ich kann mich noch gut an die Situation erinnern, als feststand, dass er ins Gefängnis kommt. Da hatten wir intensive Gespräche mit ihm und seiner Mutter, um zu entscheiden, wie wir im Film mit der Situation umgehen. Natürlich hätten Kalle und seine Mutter jederzeit entscheiden können, wir hören jetzt auf. Aber das Gefängnis war ein Teil seines Lebens und gerade, weil solche Erfahrungen häufig tabuisiert werden, war und ist es Kalle wichtig, das nicht auszublenden. Im Gefängnis selbst durften wir leider nicht drehen.
kinofenster.de: Die Zeit im Gefängnis wird im Film durch animierte Zum Inhalt: Sequenzen nachgestellt. Während Sie sonst eher auf Beobachtungen setzen und Kalle viel Raum für eigenen Gedanken bekommt, wird hier eine bewusste Stilisierung vorgenommen. Wie kam es zu der Entscheidung?
Tine Kugler: Wir haben Kalle während der Haft nur ohne Kamera gesehen, daher mussten wir nach einer Alternative suchen. Wir haben uns in der Zeit viele Briefe geschrieben, die wir dann als Grundlage für die Animationen verwendet haben. Das war sehr aufwendig und nur durch die Filmförderung möglich. Wir haben dadurch eine zusätzliche Ebene in den Film eingefügt, um Kalles Gedanken aus der Zeit im Gefängnis visualisieren zu können.
kinofenster.de: Wie hat Kalle reagiert, als er den Film zum ersten Mal gesehen hat?
Günther Kurth: Wir haben ihm den Film vor der ersten öffentlichen Vorführung gezeigt, und er fand die Klamotten schlimm, die er als 14-Jähriger anhatte (lacht), aber er hat nichts an dem Film auszusetzen gehabt und wollte auch nichts ändern. Er war eher ein stückweit beeindruckt und überwältigt von sich selbst, wie es wahrscheinlich jedem von uns gehen würde, wenn man zehn Jahre seines Lebens so intensiv gespiegelt bekommt.
Tine Kugler: Er hat ihn später noch ein paarmal mit angesehen und dann selbst gesagt, dass es zwischenzeitlich schon hart sei, sich das anzuschauen. Aber er hat einmal auch den Satz gesagt: Jeder Mensch sollte so einen Film über sich haben, um sein eigenes Leben besser einschätzen zu können.
kinofenster.de: Der Film erzählt viel über soziale Ungleichheit in Deutschland. Haben Sie sich bewusst dafür entschieden, in einem sozial schwierigen Milieu zu drehen oder hätten Sie einen ähnlichen Film auch in einer Akademikerfamilie machen können?
Tine Kugler: Grundsätzlich schon, aber Kalle hat uns von Anfang an interessiert und wir haben ihn und seine Familie sehr gemocht, das war ausschlaggebend. Das soziale Milieu stand nicht im Vordergrund, das kommt im Film eher nebenbei, zum Beispiel durch die Probleme und Herausforderungen, vor denen Kalle immer wieder steht, mehr vielleicht als andere Menschen.
kinofenster.de: Wie geht es Kalle heute?
Günther Kurth: Die Zeit im Gefängnis hat ihm nicht gutgetan, das muss man leider sagen. Er ist dort persönlich nicht weitergekommen, das zeigt der Film, das bestätigen aber auch Studien generell über Gefängnisstrafen. Es passiert dort einfach sehr wenig. Und man muss sich schon fragen, ob denn allein das Wegsperren als Form der Wiedergutmachung funktioniert. Ansonsten geht es Kalle, soweit wir das beurteilen können, momentan ganz okay – durch die Frau und ihr Kind, um das er sich kümmert. Aber der Weg zurück in ein "normales" Leben braucht Zeit. Wir glauben fest daran, dass er es schafft.
kinofenster.de: Was können junge Leute aus dem Film für sich persönlich mitnehmen?
Tine Kugler: Von jungen Leuten im Publikum und von Jugendjurys haben wir als Feedback bekommen, dass Kalles Geschichte für sie viele grundsätzliche Fragen aufwirft: Was habe ich von meinem Umfeld mitbekommen und was sind meine freien Entscheidungen? Wo ist mein Platz in einer oft unfairen Welt? Wie entwickeln sich meine Träume durch Höhen und Tiefen? Was ist ein gutes Leben?
kinofenster.de: Vielen Dank für das Gespräch.