Kategorie: Filmbesprechung
"Einer von uns"
Die Jugendlichen einer österreichischen Kleinstadt verbringen ihre Freizeit vor dem einzigen Supermarkt des Ortes. Ihr Ausbruchsversuch aus der Langeweile endet tragisch.
Unterrichtsfächer
Thema
Julian ist 14 und lebt in einer österreichischen Vorstadt. Weil es hier nicht viel zu tun gibt, hängen die Jugendlichen meist auf dem Parkplatz vor dem örtlichen Supermarkt herum; oft unter den abschätzigen Blicken zweier Polizisten und des herrischen Marktleiters. Man vertreibt sich die Zeit mit Musik, Graffitis und ersten Erfahrungen in Sachen Liebe – bis plötzlich Marko, frisch entlassen aus dem Gefängnis, wieder auftaucht. Julian interessiert der schweigsame Junge, der es geschafft hat, gegen das normale Leben zu rebellieren. Er schließt sich ihm und dem selbst erklärten Anführer Victor an, der die Jüngeren mit Marihuana und Alkohol versorgt und zu Spritztouren in seinem Wagen mitnimmt. Julian will Teil einer Gegenbewegung zum monotonen Alltag sein. Ein Wunsch, der in einer Tragödie endet.
Fiktionalisierung wahrer Ereignisse
Die Eröffnungssequenz (Glossar: Zum Inhalt: Sequenz) von "Einer von uns" vermittelt bereits eine Vorahnung der tragischen Ereignisse. Eine Zum Inhalt: Montage aus Supermarkteinstellungen, eine blaue Flüssigkeit, die sich über den Boden verteilt, ein Körper, der reglos am Boden liegt. Regisseur Stephan Richter beginnt seinen Film mit einer Zum Inhalt: Vorausblende, bevor die eigentliche Handlung einsetzt. "Einer von uns" beruht auf einer wahren Begebenheit, die 2009 die österreichische Öffentlichkeit erschütterte. In der Nacht vom 4. auf den 5. August brachen zwei Jugendliche aus der niederösterreichischen Stadt Krems in einen Supermarkt ein. Sie lösten durch das Aufstemmen eines Rollladens einen stillen Alarm aus. Beim Polizeieinsatz wurde einer der Jungen verletzt, der andere starb durch die Kugeln der Polizei. Richter hat diese Nachrichtenmeldung fiktionalisiert, indem er den Jugendlichen über die Tragödie hinaus eine Geschichte gibt.
Zwischen Rebellion und Resignation
Durch seine ruhige, analytische Bildsprache liegt der Fokus auf den Figuren, deren Charaktere behutsam gezeichnet werden. Julian ist ein zurückhaltender Teenager, der ständig zwischen dem Drang auszubrechen und der Angst vor dem Verbotenen schwankt. Er raucht einen Joint, doch er nimmt keinen routinierten, coolen Zug, sondern hustet und wankt unter dem Einfluss des Rauschmittels. Hinter dem Supermarkt wirft er Getränkestapel um, doch statt zu flüchten, erstarrt er zur Salzsäule. Lena, mit der sich für Julian eine erste Liebe anbahnt, ist in dieser Beziehung einen Schritt weiter. Sie riskiert auch mal etwas, klettert unerlaubt auf Dächer oder klaut aus reiner Freude an der Sache.
Marko ist über diesen Punkt schon hinaus, er hat resigniert. Anfangs scheint er noch darauf bedacht zu sein, keine neuen Fehler zu machen. Doch wie Schulabbrecher Michael, der eine Ausbildung im Supermarkt begonnen hat, erkennt Marko, dass es in diesem überschaubaren Kosmos aus Fassaden und Schubladen relativ egal ist, was man macht, wenn man erst einmal einen Stempel aufgedrückt bekommen hat. Victor reagiert auf diese Auswegslosigkeit auf seine Weise: Weil er sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlt, verhöhnt er all jene, die versuchen, sich in das System einzugliedern. Um sich um seinen Sohn, der bei der Mutter lebt, kümmern zu können, müsste er selbst einer regelmäßigen Arbeit nachgehen; stattdessen inszeniert er sich als Gangleader und Kleinstadtkrimineller. In einer Welt, in der Erwachsensein bedeutet abzustumpfen, hat Victor einfach beschlossen, gar nicht erst erwachsen zu werden.
Zwischen Monotonie und Konsum
Der Supermarkt fungiert nicht nur als Lebensmittelpunkt der Jugendlichen, sondern auch als Dreh- und Angelpunkt des Films. Zwischen Beton und lähmender, sich ewig wiederholender Routine ist der Konsum das Einzige, das den Menschen ein kurzes Gefühl von Freiheit und Glück beschert. In sterilen Gängen, eingefangen in langen Kamerafahrten (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) und geometrischen Zum Inhalt: Einstellungen, stehen perfekt geordnete, bunte Artikel, die den Kontrast zum grauen Leben hinter der gläsernen Schiebetür darstellen. Doch die vollen Regale bieten nur kurze Befriedigung für die Bedürfnisse der Jugendlichen. Jeder sucht nach einem Weg aus der Tristesse. Die einen betäuben sich mit Alkohol, die anderen versinken in großem Schweigen und die Jugendlichen wollen eigentlich nur schreien. Doch gerade die Stille des Films lässt diese unterdrückten Schreie umso spürbarer werden. Der Kreislauf aus Konsum und Langeweile dreht sich ewig weiter und scheint nur durch ein tragisches Ereignis zum Stillstand zu kommen.
Richter gelingt es dabei, die Protagonisten nicht zu bewerten. Er verzichtet auf Schuldzuweisungen, denn jede Figur ist ein Produkt ihrer beklemmenden Umgebung. Mit einer präzisen und unaufgeregten Kameraführung fordert der Film die Zuschauenden auf, genau hinzusehen. Er bietet Raum, zwischen den Worten, Blicken und Taten zu lesen und diese zu analysieren. Er macht die Graustufen sichtbar – die der Betonwüste und die der Menschen darin.