Kategorie: Hintergrund
Deutschsprachige Exilliteratur in den 1930er-Jahren
Viele deutschsprachige Autorinnen und Autoren teilten Stefan Zweigs Exil-Erfahrung. Ihre Positionierungen gegenüber dem NS-Regime fielen jedoch unterschiedlich aus.
Stefan Zweig sitzt mehreren Journalisten gegenüber, die ihn fassungslos anstarren. Sie haben eines der seltenen Interviews mit dem weltbekannten Schriftsteller ergattert. Es ist das Jahr 1936, in dem diese Szene aus Zum externen Inhalt: Vor der Morgenröte (öffnet im neuen Tab) spielt. Zweigs Bücher waren 1933 öffentlich verbrannt worden, er selbst lebt im Exil. „Wie kommentieren Sie die Vorgänge in Deutschland?“, fragen die Journalisten. „Ich hasse die Politik“, erwidert Zweig. Als Schriftsteller solle man sich seinem Werk und nicht der Politik widmen. „Ich werde nicht gegen Deutschland sprechen.“ Seine Antwort löst Unverständnis, Enttäuschung, ja sogar Wut bei den Journalisten aus, die eine klare Verurteilung des Hitler-Regimes erwartet hatten. Manche sind allein dafür zum PEN-Kongress nach Buenos Aires gereist. „Jede Widerstandsgeste, die kein Risiko in sich birgt und keine Wirkung hat, ist nichts als geltungssüchtig“, entgegnet Zweig. Die Frage, wie man denn wirkungsvoll Widerstand gegen den Nationalsozialismus leisten kann, hat viele Literatinnen und Literaten im Exil beschäftigt. Sie hat sie aber auch tiefgehend gespalten.
Autorinnen und Autoren im Exil
Die emigrierten Autorinnen und Autoren bildeten keineswegs eine einheitliche Gruppe. Zwischen 1933 und 1945 ergriffen insgesamt über eine halbe Million Menschen die Flucht, darunter geschätzt 2.500 Schriftsteller/-innen sowie Journalistinnen und Journalisten. Sie kamen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten und politischen Richtungen. Nicht nur Bertolt Brecht oder Anna Seghers, die bereits vor ihrer Emigration politisch aktiv waren, sondern auch bürgerliche Autoren wie Lion Feuchtwanger und Thomas Mann begannen sich politisch zu engagieren (Mann z. B. wandte sich in seiner Radiosendung “Deutsche Hörer!” des BBC direkt an die Bevölkerung). Die Schriftsteller/-innen Ricarda Huch und Werner Bergengruen wiederum, die trotz ihrer Ablehnung des NS-Regimes in Deutschland blieben, zogen sich in die sogenannte „innere Emigration“ zurück und übten passiven bzw. verdeckten Widerstand aus.
„Das andere Deutschland“
Die Autorinnen und Autoren im Exil verstanden sich im Gegensatz zum nationalsozialistischen Reich als das „andere“, das wahre Deutschland. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft und politischen Einstellungen gab es jedoch keine geschlossene Vorgehensweise. In den über 400 im Exil gegründeten und zumeist kurzlebigen Zeitungen brachen heftige Debatten über die Strategien des Widerstands aus. So zog Stefan Zweig im Herbst 1933 seinen Beitrag für Klaus Manns antifaschistische Zeitschrift Die Sammlung zurück. Er wollte den „aggressiven Charakter“ des Projekts nicht unterstützen, wofür er öffentlich angegriffen wurde. Auch Thomas Mann und Robert Musil zogen sich aus dem Projekt zurück, da ihnen die Zeitschrift zu politisch war. Aus dem Schutzverband deutscher Schriftsteller im Exil (SDS) in Paris, dessen Ehrenpräsident Heinrich Mann war, traten viele aus Protest aus. Die kommunistischen Mitglieder hatten die eigentlich überparteiliche Vereinigung für parteipolitische Ziele vereinnahmt. Die meisten Initiativen zerschlugen sich aufgrund von derartigen internen Konflikten.
Prekäre Lebensumstände
Ein weiteres Problem bestand in den prekären Lebensumständen der Schriftsteller/-innen, die in der Fremde oftmals Schwierigkeiten hatten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Nach der ersten Emigrationswelle ins europäische Ausland 1933 hatten sich zwar aktive kulturelle Zentren in Paris, Amsterdam und Prag gebildet. Angesichts der deutschen Invasionen ab 1938 mussten viele aber erneut fliehen und suchten in den Vereinigten Staaten (u. a. Thomas Mann, Lion Feuchtwanger), Lateinamerika (u. a. Stefan Zweig, Anna Seghers), Palästina (u. a. Else Lasker-Schüler, Arnold Zweig) und der Sowjetunion (u. a. Willi Bredel, Johannes R. Becher) Zuflucht. Die unsichere Lebenssituation, aber auch der Sprachverlust bzw. Sprachwechsel sowie die Trennung von Publikum und Verlagen im Heimatland stellten große Hindernisse für die Verbreitung der Werke dar. Unter zahlreichen Literatinnen und Literaten löste die Erfahrung des Nazi-Terrors und des Exils nicht nur eine Schaffens-, sondern auch eine Existenzkrise aus, die neben Stefan Zweig auch Autoren wie Walter Benjamin und Kurt Tucholsky in den Selbstmord trieb. In der Sowjetunion, die eine erhebliche Anzahl der kommunistischen Kulturschaffenden aus Deutschland aufgenommen hatte, litten die Schriftsteller/-innen nicht nur an der politischen Vereinnahmung und den zunehmenden Repressionen unter Stalin, einige fielen den politischen Säuberungen auch zum Opfer.
Schreiben als Widerstand
Besser situierte Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger und Thomas Mann unterstützten ihre Kolleginnen und Kollegen finanziell. Klaus Mann nahm auf der Seite der Alliierten später sogar am Krieg gegen das NS-Regime teil. Die wichtigste Form des Widerstands war aber das Schreiben selbst. In seinem Satire-Roman "Der falsche Nero" (1936) zog Lion Feuchtwanger gezielt historische Parallelen zum antiken Rom für seine Kritik an der Situation in Deutschland. Die Figuren des Möchtegernkaisers und seines Beraters tragen unverkennbar die Züge von Hitler und Goebbels. Bertolt Brechts pazifistisches Theaterstück "Mutter Courage und ihre Kinder" (1941) spielt zwar während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648), doch am Beispiel einer Mutter, die am Krieg verdienen möchte und dadurch ihre drei Kinder verliert, warnt das Stück nicht nur vor dem Krieg, sondern auch vor dem Kapitalismus. Historische Stoffe wurden in der antifaschistischen Exilliteratur von Schriftsteller/-innen verschiedenster politischer Lager bevorzugt verwendet. So gelten etwa auch Heinrich Manns Romane über Heinrich IV. als exemplarische Werke der deutschen Exilliteratur.
Zweigs politische Haltung
Stefan Zweig bestand trotz Anfeindungen auf seinem humanistisch-pazifistischen Standpunkt, den er ebenfalls mit historischen Bezügen zum Ausdruck brachte. Seine literarische Biografie des "Erasmus von Rotterdam" (1934) gilt als verschleierte Selbstdarstellung. Darin hebt er die Unabhängigkeit des berühmten Universalgelehrten im Glaubensstreit zwischen Katholizismus und Protestantismus in der Reformationszeit hervor. Er kritisiert Fanatismus und radikale Positionen, die er auch im Kampf gegen den Nationalsozialismus für ungeeignet hielt. Als einer der meistgelesenen Autoren der Welt nutzte er seine Stellung jedoch, um zahlreichen Bekannten bei der Flucht zu helfen.
Auch abseits des Rampenlichts unterstützte er humanitäre Organisationen. Wie neu entdeckte Archivmaterialien zeigen, engagierte er sich während seines Aufenthalts auf dem PEN-Kongress 1936 für den argentinischen Hilfsverein deutschsprechender Juden und die deutschsprachige Pestalozzi-Schule in Buenos Aires. Doch aufgrund seiner öffentlichen Zurückhaltung wurde er von Kolleginnen und Kollegen scharf kritisiert. Zudem wurde ihm oft vorgeworfen, Kitschliteratur für die Massen zu produzieren. Bis heute stellen darüber hinaus namhafte Literaturkritiker/-innen die literarische Qualität seiner Werke in Frage. Neben seinem unpolitischen Verhalten während des NS-Regimes ist dieser Vorwurf ein Hauptgrund dafür, warum Zweig im deutschsprachigen Raum nach 1945 nur zögerlich rezipiert wurde. In anderen Teilen der Welt, etwa in Russland und China, ist Zweig hingegen als politischer Autor angesehen, der gesellschaftskritische Meisterwerke schuf.