Kategorie: Hintergrund
Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Eine kurze Geschichte des Dokumentarfilms
Der Dokumentarfilm birgt durchaus das Potenzial einer starken Veränderung und Manipulation der Realität. Das macht das Genre so heikel.
Als die Produzenten optischer Geräte Louis und Auguste Lumière 1895 den Cinématographe erfunden hatten, stellten sie die Apparatur vor ihre Fabrik und filmten die Arbeiter, die am Feierabend aus den Toren kamen. Der kurze Filmstreifen gehörte zur allerersten Programm-Präsentation der Lumières. Die Kamera stand in Augenhöhe, es gab keine Zum Inhalt: Dramaturgie und keine Zum Inhalt: Montage, denn die war noch nicht erfunden. Es ist die Dokumentation eines realen Geschehens – auch wenn die Brüder Lumière diese Zum Inhalt: Szene mehrere Male mit den Arbeitern probten, bis sie im "Kasten war“. Oder sprechen wir hier bereits von einer Zum Inhalt: Inszenierung? Im selben Programm lief allerdings auch ein anderer Film – ebenfalls ohne Schnitt und ausgesuchte Kameraposition: Ein Lausbub tritt auf den Schlauch, mit dem ein Gärtner den Rasen sprengt. Das Wasser bleibt aus, der Gärtner guckt in die Düse, der Junge zieht den Fuß zurück, und der Gärtner wird nass. Er entdeckt den Jungen und verprügelt ihn. Im Gegensatz zum ersten Beispiel wurde hier eine fiktive Geschichte in Szene gesetzt: Es handelt sich also um einen Zum Inhalt: Spielfilm.
Historische Dokumente
In den Anfängen des Kinos hat diese Unterscheidung allerdings niemand gemacht. Die Attraktion des neuen Mediums waren die bewegten Bilder, ob sie nun inszenierte Handlungen zeigten, die Einfahrt von Zügen in Bahnhöfe, die Tänze "exotischer" Völker oder die Paraden vor gekrönten Häuptern. Heute dienen die Filme, die 1897 über das Thronjubiläum der englischen Königin Victoria gedreht wurden, als historische Dokumente. Auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. präsentierte sich gerne vor den Linsen dieser brandneuen Geräte. Doch genau damit beginnen die Probleme in der Diskussion um den Dokumentarfilm. Beschrieben die Kameras noch den Kaiser, wie er wirklich war, oder setzte Seine Majestät sich vor den Kameras bereits wirksam in Szene?
Wahrheit und Fiktion
"Filmform, die eine möglichst wirklichkeitsnahe Darstellung anstrebt", so definiert das rororo-Sachlexikon Film den Zum Inhalt: Dokumentarfilm als Zum Inhalt: Gattung. Mit den Wörtern "möglichst" und "nahe" wird ausgedrückt, dass der Dokumentarfilm nichts anderes sein kann als eine Annäherung an die Realität. Und er birgt durchaus das Potential einer starken Veränderung und Manipulation der Realität. Das macht die Gattung des Dokumentarfilms so heikel. Von einem Spielfilm erwartet das Publikum nicht Wahrheit sondern Fiktion. Von einem Dokumentarfilm dagegen erwartet es Wahrheit. Auch deswegen kann diese umso leichter fingiert werden.
Scheinbar objektive Berichte
So verzerrten die zahllosen ethnografischen Filme, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Publikum nachgefragt wurden, die Lebenswirklichkeit der mit der Kamera beobachteten exotischen Völker schon durch die Perspektive der angemaßten zivilisatorischen Überlegenheit der angereisten abendländischen Filmschaffenden. Im Ersten Weltkrieg lieferten die Frontberichterstatter mit der Kamera dann scheinbar objektive Informationen in die Heimat. Tatsächlich verwandelte sich die Dokumentation aber in Zum Inhalt: Propaganda. Dokumentarische Zum Inhalt: Stummfilme wie "Britain Prepared " (Charles Urban, GB 1915), der die militärischen Vorbereitungen Großbritanniens zum Ersten Weltkrieg zeigt, ergriffen versteckt Partei. "Britain Prepaired " entstand im Auftrag einer Propaganda-Institution, die den Regisseur beauftragte, mit dem Film in den noch neutralen USA Unterstützung für Großbritanniens Kriegsziele einzuwerben.
Der Mann mit der Kamera
Als große Epoche des Dokumentarfilms gilt die Zeit nach der Russischen Revolution 1917. Da wurden Wochenschauen für die Landbevölkerung gestaltet, die sich Kinopravda nannten und einen eindeutig pädagogischen Auftrag im Sinne der jungen Sowjetunion hatten. Höhepunkt der Bewegung wurde 1929 Dsiga Vertovs "Der Mann mit der Kamera" , ein experimenteller poetischer Dokumentarfilm über einen Tag in einer sowjetrussischen Großstadt. Dabei begleiten die Zuschauenden einen Filmreporter, der Alltagsszenen filmt, die später im Schneideraum zusammengefügt werden. Der Film ist sowohl avantgardistisches Montageexperiment als auch ideologische Indoktrination und wurde filmtheoretisch als Neuerfindung des Lebens durch das neue Medium behauptet. Es ist jedoch zum großen Teil Vertovs selbstreflexives mediales Konzept, die permanente Darstellung der Aufnahmesituation und der filmischen Konstruktion, die ihn seiner Zeit voraus erscheinen lassen.
Entwurf der Wirklichkeit
Die Neugestaltung der Wirklichkeit durch Montage kennzeichnet ein weiteres Meisterwerk des Dokumentarfilms: Walther Ruttmanns "Berlin – Die Sinfonie der Großstadt" (DE 1927). Hier wurde versucht, ein Stadtporträt im Rhythmus der Moderne zu schaffen und dem Formprinzip eines Tageslaufs zu unterwerfen. Der Dokumentarfilm kann ja gar nicht anders, als sich der Wirklichkeit über die Auswahl ihrer Aspekte zu nähern und diese gemäß formaler Entscheidungen zu gestalten. Ja, er muss manchmal einschneidend in die Wirklichkeit eingreifen, um sie überhaupt abbilden zu können. So wurden für Robert Flahertys berühmten ethnographischen Film "Nanuk, der Eskimo " (Nanook of the North, USA 1922) Iglus ohne Kuppelwölbung (also Dach) gebaut. Denn die Kameraobjektive waren noch so lichtschwach, dass in einem normalen Iglu keine Aufnahmen möglich gewesen wären. Dass die Eskimos ihre moderne Alltagskleidung gegen traditionelle Fellgewänder tauschen mussten, war eine "künstlerische" Entscheidung des Regisseurs.
Propaganda und poetische Hymnen
Der Dokumentarfilm war also nie ein Abbildungsmedium unverfälschter Wirklichkeit. Er ist stets Zwecken und Interessen unterworfen, auch wenn die deutsche Filmemacherin Leni Riefenstahl heute noch behauptet, ihre Filme über die Nürnberger Reichsparteitage der NSDAP ("Sieg des Glaubens" , 1933; "Triumph des Willens" , 1934) und über die Olympischen Spiele 1936 in Berlin ("Fest der Völker" , "Fest der Schönheit" ) seien gänzlich unpolitische Dokumente. Der niederländische Filmemacher Joris Ivens hat 1933 in "Borinage" , einem Dokumentarfilm über belgische Bergarbeiter während und nach ihrem großen Streik Anfang der 1930er-Jahre, das Leben seiner Protagonisten ja nicht einfach registriert, er hat vielmehr die Unwürdigkeit der Verhältnisse angeprangert. Und der Brite John Grierson hat mit "Drifters " (GB 1929) oder "Night Mail " (GB 1933) nicht bloß die Arbeit von Fischern und Postzustellern beobachtet, er hat ihnen vielmehr poetische Hymnen komponiert.
Tanz der Tiere
Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Zum Beispiel die biologische Wirklichkeit der Landstriche, die Walt Disney in Filmen wie "Die Wüste lebt" (The Living Desert, James Algar, USA 1954) oder "Wunder der Prärie" (The Vanishing Prairie, James Algar, USA 1955), beides Vorläufer zahlreicher Tier- und Naturdokumentationen, auf die Leinwand brachte. Detaillierte Tierbeobachtungen begannen durch Montage, Kommentar und Zum Inhalt: Filmmusik Geschichten zu erzählen – eine Technik, die zu fragwürdiger Perfektion verfeinert wurde. Filme wie "Die Reise der Pinguine" ( "La marche de l’empereur" , Luc Jacquet, Frankreich 2005) oder Zum Filmarchiv: "Königreich Arktis" (Arctic Tale; Adam Revetch, Sarah Robertson, USA 2007) beschönigen häufig die harte Lebensrealität und die animalische Natur ihrer "vermenschlichten" Protagonisten zugunsten einer anrührenden Erzählweise.
Dokumentarfilm als Fernsehgenre?
Gegen den Trend solcher gestalteter Kulturfilme hat sich in den 1960er-Jahren mit dem Zum Inhalt: Cinéma Verité nochmals eine Bewegung aufgetan die puristischer an die Realität herangehen wollte. Tragbare Aufnahmegeräte für Bild und Ton ermöglichten neue spontane Zugriffe auf die Wirklichkeit. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung, das Umkreisen der darzustellenden Realität, die Unschärfe von Bild und Ton wurde geradezu zum Ausweis von Authentizität. Neuer unvermittelter Journalismus wurde möglich, wie ihn der deutsche Fernsehdokumentarist Klaus Wildenhahn ("Heiligabend auf St. Pauli" , BRD 1968) empathisch und geduldig praktizierte, wenn er den bislang üblichen Stil von Fernsehdokumentationen durch lange Zum Inhalt: Einstellungen ohne Zwischenschnitte durchbrach. Das aber geschah dem Dokumentarfilm: Er wurde ein Genre der Television. Lange Zeit verschwand er fast vollständig von den Kinoleinwänden.
Eine neue Chance
Dorthin ist er in den letzten Jahren mit erstaunlichem Erfolg zurückgekehrt. Den alten Diskussionen über seine Realitätshaltigkeit entzieht er sich durch klare formale Entscheidungen. Er erscheint als polemische Ich-Erzählung wie die Filme von Michael Moore ("Sicko" , USA 2007) oder als umweltpolitischer Appell wie Zum Filmarchiv: "11th Hour – 5 vor 12" (The 11th Hour; Nadia Conners, Leila Conners Petersen, USA 2007); mit präzise recherchiertem Aufklärungsgestus wie Erwin Wagenhofers "We Feed the World – Essen global" (AT 2005) oder als komplex konstruiertes essayistisches Zum Inhalt: Roadmovie wie "Das Netz" (DE 2003) des Multimediakünstlers Lutz Dammbeck. Es sieht so aus, als hätte sich der Spielfilm vor allem im Main Stream von Superhelden und Action allzu weit von der Wirklichkeit der Kinogänger/-innen entfernt. Deswegen bekommt der Dokumentarfilm eine neue Chance – wie problematisch auch immer sein Umgang mit der Wirklichkeit sein mag.
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