Paris im Jahr 1971: Die Studentenunruhen des Mai 1968 sind längst Geschichte, doch für den Gymnasiasten Gilles und einige Mitschüler/innen geht der Kampf weiter. Sie rebellieren mit Straßenschlachten und Graffiti-Aktionen gegen Staat, Kapitalismus und Polizei. Als bei einem nächtlichen Einbruch in das Schulgebäude ein Wachmann schwer verletzt wird, fliehen sie nach Italien. Es ist eine Flucht vor der Autorität und zugleich eine Reise in die eigene Gefühlswelt. Die politischen Konflikte, zuvor in hitzigen Debatten ausgetragen, verlangen private Entscheidungen für die Zukunft. Der sensible Gilles sieht dabei die einzig revolutionäre Kraft nicht im Kollektiv, sondern in der Kunst und geht zum Film.

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In meisterlicher Manier verarbeitet Regisseur Olivier Assayas, Jahrgang 1955, eigene Jugenderinnerungen zu einem Generationenporträt. Die Atmosphäre der Zeit ist ihm dabei wichtiger als dramaturgische Dichte. So folgen auf die energetisch geschnittenen Straßenaktionen des Anfangs bald Phasen kontemplativer Ruhe; sanft ausgeleuchtete Landschaftsbilder (Glossar: Zum Inhalt: Licht und Lichtgestaltung) führen ins Innenleben der Protagonisten/innen, die zwischen alterstypischer Ungewissheit und der Hoffnung auf ein revolutionäres Morgen ihre Freiräume erkunden. Begegnungen mit einem italienischen Polit-Filmkollektiv und US-amerikanischen Hippies stellen Fragen nach dem richtigen Leben jenseits politischen Sektierertums und drohender Verbürgerlichung. Die faszinierende Mischung aus beiläufiger Beobachtung und Empathie ergibt sich aus der Entschleunigung von Kamera (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) und Schnitt (Glossar: Zum Inhalt: Montage), einer minimalistisch-exakten Zum Inhalt: Ausstattung, sparsamen Dialogen und einem stimmungsvollen Soundteppich (Glossar: Zum Inhalt: Tongestaltung/Sound-Design) aus größtenteils unbekannten Musikperlen der Psychedelic-Ära.

Die jugendliche Sehnsucht nach Rebellion entfaltet in "Die wilde Zeit" zwar nostalgisches Flair, sie wird aber als politische Kraft auch ernst genommen. Da die historischen Zusammenhänge kaum erklärt werden, sollte die Geschichte des Mai 1968 im Unterricht vorab erläutert werden. Ein Vergleich mit den zeitgleichen Geschehnissen in Deutschland bietet sich an. In der Nachbearbeitung können die Beweggründe der einzelnen Charaktere analysiert werden. Utopische Lebensentwürfe und deren gesellschaftliche Bedingungen, aber auch die Gefahr politischer Gewalt sind Themen, die Schüler/innen auch heute noch interessieren dürften. In seiner ruhigen, aber doch emotional einnehmenden Inszenierung ist der Film darüber hinaus ein exzellentes Beispiel für die ästhetischen Vorzüge des französischen Kinos.

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