Mit dem US-amerikanischen Präsidenten spricht niemand auf Augenhöhe. Das hat mit der Würde des Amtes und dem Status einer Supermacht zu tun. Im Falle von Lyndon B. Johnson kam noch seine natürliche Körpergröße dazu: Er war 193 cm groß. In Ava DuVernays "Selma" wird Johnson von dem nicht ganz so hoch gewachsenen Tom Wilkinson gespielt, doch gibt es immer wieder Zum Inhalt: Einstellungen, in denen visuell hervorgehoben wird, wie sehr der Präsident die Besucher in seinem Office überragt. Nur Dr. Martin Luther King, im richtigen Leben deutlich kleiner als der echte Johnson (wie auch King-Darsteller David Oyelowo zu Tom Wilkinson aufschauen muss), spricht mit dem Präsidenten auf Augenhöhe – während George Washington von einem Porträt an der Wand auf beide herabblickt. Präsident Johnson und Martin Luther King treffen in diesem Geschichtsfilm, der als politisches Drama inszeniert wird, mehrfach aufeinander. Und immer sind die Zum Inhalt: Szenen kleine Machtkämpfe, Auseinandersetzungen zwischen faktischer und symbolischer Macht, zwischen Pragmatismus und Prinzipienfestigkeit. Der weiße Präsident und der afroamerikanische Bürgerrechtler, der oberste Befehlshaber der US-amerikanischen Armee (und damit auch der Truppen in Vietnam) und der Prediger des gewaltlosen Widerstands stehen in diesen Szenen einander gegenüber und scheinen einen der größten Konflikte der jüngeren US-Geschichte unter sich ausmachen zu wollen.

Selma, Szene (© Studiocanal)

Doch diese Szenen sind nur dramatische Höhepunkte, mit denen die Regisseurin einen bemerkenswert komplexen Film immer wieder auf Zweierkonstellationen verdichtet. De facto sind es viele Personen, die das Kräftefeld bestimmten, als Schwarze in Alabama im Frühjahr 1965 für ihr Recht auf Teilnahme an Wahlen demonstrierten. Und alle bekommen sie ihre Auftritte: Ein schikanöser Schalterbeamter, der zu Beginn der bekannten Bürgerrechtlerin Annie Lee Cooper (gespielt von Oprah Winfrey) die Eintragung in das Wählerregister von Selma, Alabama verwehrt, kann sich gedeckt sehen durch den Gouverneur des Bundesstaats Alabama, George Wallace (Tim Roth), der Politik für die Weißen macht und dadurch den Präsidenten unter Druck setzt. Der misstrauische FBI-Präsident J. Edgar Hoover, der belastendes Material gegen King sammelt. Die Transskriptionen dieser Überwachungsmemos, die anstelle von Orts- und Zeitangaben eingeblendet werden, fungieren in "Selma" als weitere Erzählebene. Die unzähligen lokalen und auswärtigen Aktivisten, die für den geplanten Protestmarsch nach Selma gereist sind und teilweise an Kings Strategie des passiven Widerstands glauben. Und dann ist da noch Coretta Scott King, die Ehefrau, die sich ihrem Mann entfremdet fühlt, wofür sie gute Gründe hat. Im Film verhandelt sie hinter dem Rücken ihres Mannes mit Malcolm X, dem großen Gegenspieler, der eine radikalere Form von Aktivismus befürwortete.

Dieses Treffen ist ein Ehebruch ohne Sex – und eines der vielen Beispiele dafür, wie in "Selma" ständig das Persönliche mit dem Politischen verknüpft wird. Kings Affären wiederum deutet Ava DuVernay nur diskret an. In einer der stärksten Zum Inhalt: Szenen des Films ist lediglich ein Tonband zu hören, das das FBI Coretta King zugespielt hat. Auf dem Band ist ein Mann zu hören, der mit einer Frau schläft. Die Regisseurin inszeniert diesen Moment zutiefst vergifteter Intimität mit einer schmerzhaften Zum Inhalt: Suspense, denn es ist gerade das Allerpersönlichste, an dem Coretta die Echtheit des Bandes erkennt. "Ich weiß, wie du klingst", entgegnet sie und lässt ihn damit unausgesprochen wissen, dass sein Betrug entlarvt ist. Gegen diesen letzten Beweis seiner Untreue kommt ihre Disziplin als Ehefrau eines bedeutenden Mannes nicht mehr an.

Martin Luther King wird in "Selma" als etwas undurchsichtige Figur gezeigt, nicht zuletzt für seine Frau. David Oyelowo spielt ihn als einen introvertierten Intellektuellen, der nur bei seinen Reden aus sich herausgeht. In gewisser Hinsicht entspricht das zurückhaltende Charisma, das sich hier entfaltet, auch der politischen Strategie von King: Gewaltlosigkeit bedeutet für ihn das Gegenteil von Duldsamkeit, der Malcolm X ihn bezichtigte, als er King abschätzig einen neuen "Onkel Tom" nannte.

Selma, Szene (© Studiocanal)

Fast könnte man meinen, dass DuVernay auch mit der Form ihres Films eine Entsprechung zu dieser zugleich spirituell geprägten und avantgardistisch wirkenden Politik gesucht hat: einen biografischen Geschichtsfilm, der nicht auftrumpft im Wissen um den erfolgreich geschlagenen Kampf, sondern der einen ambivalenten Kern herausarbeitet und in der beschränkten Handlungsmacht seiner Figuren nach dem entscheidenden Moment sucht. US-Präsident Barack Obama hat dies in geopolitischer Hinsicht einmal als "leading from behind" definiert: eine Zurücknahme zugunsten geschickter, vermittelter Intervention. Mit der Figur von Martin Luther King war dieser Führungsstil bereits verwirklicht.

Hier liegt der entscheidende Unterschied zu Filmen wie Zum Filmarchiv: "Malcom X" von Spike Lee oder von Justin Chadwick, und es zeigt sich an Details wie dem, dass sich eine einflussreiche Persönlichkeit wie Oprah Winfrey in "Selma" mit einem markanten Cameo begnügt und sich danach einreiht in die Formation der Afroamerikaner, die mit einem Marsch von Selma nach Montgomery ihr Wahlrecht einfordern. Politik ist, vor allem wenn sie sich als eine Bürgerrechtsbewegung zeigt, niemals nur eine Sache charismatischer Persönlichkeiten. Deswegen liegt die besondere Qualität von "Selma" darin, dass der Film Martin Luther King als starken Anführer zeigt, ohne darüber die Vielstimmigkeit der Bürgerrechtsbewegung zu ignorieren.

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