Kategorie: Videointerview
Andreas Voigt über "Glaube Liebe Hoffnung" (1993)
Andreas Voigt, Regisseur von "Glaube Liebe Hoffnung" , erinnert sich an das Leipzig der Wendezeit und erklärt, warum er in der gegenwärtigen politischen Situation gewisse Parallelen sieht.
Andreas Voigt, 1953 in Eisleben geboren, wächst in Dessau auf und macht in Halle sein Abitur. Er studiert Physik in Krakau und Volkswirtschaft und Wirtschaftsgeschichte in Ost-Berlin. Ab Ende der 1970er-Jahre arbeitet er zunächst als Dramaturg im DEFA-Studio für Dokumentarfilme und beginnt dann ein Zum Inhalt: Regie-Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg. Von 1987 bis 1990 ist Voigt als Regisseur im DEFA-Studio für Zum Inhalt: Dokumentarfilme beschäftigt und fängt mit der Arbeit an seiner Reihe von Leipzig-Filmen an, in deren Rahmen auch "Glaube Liebe Hoffnung" (DE 1993) entstanden ist. Seit der Schließung des DEFA-Studios 1991 ist Voigt als freischaffender Regisseur und Autor tätig.
Unter dem Videointerview finden Sie das Gespräch auch in schriftlicher Form. Der Text weicht von der Hörfassung leicht ab.
Das Interview mit Andreas Voigt führte Raphael Jung für die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb).
Andreas Voigt: Die stehen da auf dieser Schutthalle und reißen ihre Fabrik ab. Ich mein e, das ist eine verrückte Situation, das passiert nicht oft ihm Leben. Das ist ein solcher Einschnitt: Du verlierst deinen Job, du verlierst deine wirtschaftliche Existenz, deine Frau wahrscheinlich auch. Gut, dann kannst du zum Arbeitsamt gehen. Es verhungert niemand, die Wohnung kriegst auch noch irgendwie bezahlt, aber was du erlebst, ist einfach, dass du mit deinem kleinen Menschenleben nicht mehr gebraucht wirst. Das ist es eigentlich. Jeder von uns will gebraucht und wahrgenommen werden. Muss es auch, weil das ist im Menschsein verankert und wenn es nicht funktioniert, dann wird es ein Problem, nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern für die Gesellschaft.
Wie haben Sie Leipzig während der Dreharbeiten erlebt?
Andreas Voigt: Diese Leipzig-Gegend war in einen total desolaten Zustand damals, noch nicht zu vergleichen mit heute. Die ganzen großen Betriebe haben zugemacht. Die Leute waren arbeitslos, die hatten keine Perspektive. Junge Leute hat es da auch nicht unwesentlich getroffen, Sven redet auch darüber. Der war gerade in der Ausbildung und der Betrieb, wo er in der Ausbildung war, wurde auf einmal zugemacht. Dann konnte er nicht weiter seinen Beruf lernen. Ich will damit nicht sagen, dass das alles gesellschaftlich determiniert ist. Das hat natürlich immer auch individuellen Faktoren. Jeder ist an einem bestimmten Punkt seines Lebens für bestimmte Dinge selber verantwortlich. Aber es gibt auf jeden Fall eine extreme Korrelation zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und, sage ich einmal, eigener psychosozialer Struktur und Befindlichkeit. Da ist für viele damals etwas weggebrochen oder gar nicht erst entstanden, aus dem sie alleine nicht mehr rausgekommen sind.
Welche Szenen erscheinen Ihnen heute besonders aktuell?
Andreas Voigt: Wenn du diesen Dirk nimmst, der wirklich der einzige Ideologe ist, der im Knast sitzt – das ist natürlich brachial, aber natürlich ein interessanter Gedanke, den der 1992 oder 1993 im Knast sagt. Er sagt, wenn wir mal an die Macht kommen sollten, wir würden nicht so zögerlich mit den Feinden unseres Systems umgehen! Das ist zum Beispiel ein Gedanke – den kann man heute in der AfD oder bei anderen Leuten permanent hören. Das ist da alles schon sichtbar, das ist alles nichts Neues. Oder wenn der André – das klingt kassandrisch – und das hat er sich nicht zurechtgelegt und nicht gedacht, aber das hat er aus dem Moment seiner eigenen Hoffnungslosigkeit geholt – mit seinen 18 Jahren ohne Kohle, ohne Erziehung, ohne Ausbildung, ohne Job und ohne Beruf, mit einer schrecklichen Kindheit – das entschuldigtauch nichts –, aber da sitzt er, bürstet sein Hund und sagt mit seiner ganzen kindlichen Naivität – ich habe dieses Gesicht noch vor mir:
Filmszene mit André: "Entweder gibt sich diese Gesellschaftsform von selber auf oder die wird aufgegeben. Von der Bevölkerung. Die wird dann … was weiß ich. Revolution, das klingt alles so nach Lenin und Marx. Ich weiß nicht… Es geht nicht mehr lange so weiter. Vielleicht 10, 20, 30 Jahre, dann ist alles im Arsch hier. Das lässt sich doch keiner bieten."
Andreas Voigt: Das ist verrückt, was da schon drin steckt. Aber der kleine Mensch neigt dazu, dass er Probleme lange, lange verdrängt. Das Problem ist einfach nur, was im Problem steckt, man kann es verdrängen, aber wenn es nicht gelöst wird oder nicht gelöst werden kann, dann knallt es irgendwann. Der Widerspruch wird sich in irgendeiner Form entladen, das ist nicht lustig, aber das ist so.
Beschreibt Ihr Film ein rein ostdeutsches Phänomen?
Andreas Voigt: Natürlich liegt das völlig nahe zu sagen, man erfährt etwas speziell über den Osten. Das ist auch so, weil das Geschichten sind, die im Osten oder ehemaligen Osten spielen und, weil es Menschen und Protagonisten sind, die in der ehemaligen DDR sozialisiert worden sind, durch ihre Eltern, die dort aufgewachsen sind. Aber ich habe es oft genug erlebt, dass nach dem dritten Bier, kannst du in jeder Kneipe in Wanne-Eickel ähnliche Gespräche über Radikalisierung, über Faschismus führen, wie du sie hier erlebs. Das nur als Phänomen des Ostens und der mangelnden Erfahrung mit Demokratie oder der mangelnden Stärke der Persönlichkeit abzutun, das ist völlig fatal und eine völlig falsche Einschätzung vom Leben.