Wenn Indien wählt, steht das ganze Land Kopf. Die Bevölkerung ist stolz auf ihre "größte Demokratie der Welt", der sich über sechs Wochen hinziehende Urnengang bildet seit der Unabhängigkeit im Jahr 1947 den "eigentlichen Kern des Indischseins". Mit diesem Gedanken im Kopf bereist ein in den USA und Europa aufgewachsener Filmemacher das Land seiner dorthin zurückgekehrten Eltern, um die Parlamentswahlen des Jahres 2019 hautnah mitzuerleben. In der Familie wurde nie über Politik gesprochen. Die ersten Eindrücke scheinen sein Klischeebild zu bestätigen. Die farbenprächtigen Wahlumzüge der antretenden Parteien sind mehr Karneval als Wahlkampf; Blumen, Fahnen und Masken der Kandidat/-innen bestimmen das fröhliche Bild. Aber was hat es mit dem Erfolg des hindu-nationalistischen Premiers Narendra Modi auf sich, der seiner sicheren Wiederwahl entgegensieht? Zuhause angekommen, befragt der Filmemacher ehemalige Bedienstete seiner reichen Eltern und muss seine naiven Eindrücke revidieren. Das moderne Indien ist ein Land in der Krise, eben darum fällt Modis Populismus auf fruchtbaren Boden – nicht zuletzt bei den unteren Schichten der Bevölkerung.

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"Don’t Worry About India" ist das bisher einzige Filmprojekt einer Gruppe namens Nama Filmcollective, als Sprecher (Glossar: Zum Inhalt: Voiceover) wird Arjun Jr. genannt. Ob er mit dem reisenden Filmemacher identisch ist oder ob es sich um eine Anonymisierung handelt, bleibt unklar. Ohne selbst ins Bild zu treten, schildert er als sympathischer Erzähler seinen familiären Hintergrund und packt anschließend seinen Koffer. Im Gepäck: eine einschlägige Demokratiefibel (The Democratic Way of Life) und eine Ghandi-Statue. Auf einer Karte werden die Stationen der Route, die ihn durch Städte wie Mumbai oder Varanasi führt, geflissentlich notiert. Die naive Neugier weicht allerdings einem kritischeren Blick, je länger er die dortigen Menschen befragt. Der Golf-Caddie seines Vaters geht zu Veranstaltungen aller Parteien und ruft für etwas Geld jede Parole mit. Der ehemalige Chauffeur wählt Modis nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP, "Indische Volkspartei"), weil er deren Ressentiments gegen Muslime teilt. Viele der noch immer hart schuftenden Landarbeiterinnen verkaufen ihre Stimmen für einen Tageslohn. Nach und nach muss der Filmemacher erkennen, dass die Privilegien von Familien wie seiner und die Spaltung der indischen Gesellschaft zusammenhängen. Ghandis Traum eines geeinten Indiens hat sich nicht erfüllt.

Der anlässlich der aktuellen Parlamentswahlen erscheinende Zum Inhalt: Dokumentarfilm liefert die eindrucksvolle Analyse einer lebendigen, aber innerlich zerrissenen Demokratie. Ein kurzer, patriotische Mythen humorvoll aufnehmender Abriss indischer Geschichte seit der Kolonialzeit ist ein guter Einstieg für den Unterricht. Im Politikunterricht kann zunächst nachvollzogen werden, wie die Spaltung anhand religiöser und ethnischer Konfliktlinien das politische System bestimmt. Auch das überkommene Kastenwesen macht sich die Partei Modis – der wie selbstverständlich wiedergewählt wird – zunutze. Modis Stimmungsmache gegen Muslime, die sich im Film als Sündenböcke gebrandmarkt sehen, nährt ein weit verbreitetes Bedürfnis nach Patriotismus und Stärke. Wie ein alter Yogi anschaulich erklärt, ist eine solche Verschränkung von Politik und Religion allerdings nicht auf Indien beschränkt. So kann das Phänomen des indischen Populismus auch im globalen Kontext erörtert werden, etwa im Blick auf die USA oder Deutschland. Mit seinen teils spektakulären Bildern ist "Don’t Worry About India" Werbung für die Demokratie und zugleich kritische Bestandsaufnahme einer Staatsform, die derzeit weltweit unter Belagerung steht.

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