Kategorie: Filmbesprechung
"Eine Sekunde"
Yī miǎo zhōng
Im China der Kulturrevolution löst die 35mm-Kopie einer propagandistischen Wochenschau unvorhergesehene tragikomische Verwicklungen Sondergleichens aus
Unterrichtsfächer
Thema
China zur Zeit der Kulturrevolution. Per Motorrad wird die 35-mm-Filmkopie einer propagandistischen Wochenschau durch die Wüste Gobi transportiert. An einem Vorführungsort stiehlt das Waisenmädchen Liu eine der Rollen – sie benötigt Filmmaterial, um einen Lampenschirm zu reparieren. Der Diebstahl wird von Zhang Jiusheng beobachtet, der aus einem Arbeits- und Umerziehungslager geflüchtet ist. Zhang hat erfahren, dass seine Tochter, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hat, in der Wochenschau Nummer 22 gezeigt wird. Es stellt sich heraus, dass es sich um eine Sekunde des Filmmaterials handelt. Zhang muss sich beeilen, den Film zu sehen, weil jede Woche eine neue Wochenschau vorgeführt wird. Deshalb versucht er, die Filmrolle zurückzuholen. Ein absurdes Wettrennen zwischen dem Waisenmädchen und dem Entflohenen beginnt, das von der Wüste in eine Provinzstadt führt. Als die Filmrolle dort in den Straßenstaub fällt und völlig verdreckt, scheint Zhangs Vorhaben gescheitert. Doch der örtliche Filmvorführer und Parteigänger Fan Dianying unterzieht die Filmkopie mit Hilfe des Publikums einer aufwändigen Reinigung. So wird die Wochenschau doch noch gezeigt, und es kommt zum Showdown zwischen Liu und Zhang im Kinosaal eines maoistischen Kulturhauses.
Während der äußerst gewaltsamen Kulturrevolution in China (1966-76) waren Kino und wandernde Filmvorführer Säulen der staatlichen Propaganda. In "Eine Sekunde" verarbeitet Zhang Yimou, einer der berühmtesten Regisseure der Volksrepublik, seine persönlichen Erfahrungen aus jener Zeit in einer Mischung aus Zum Inhalt: Roadmovie und existenzieller Gaunerkomödie (Glossar: Zum Inhalt: Komödie). Sein Film ist zugleich eine nostalgische Liebeserklärung an das analoge Kino. Die sinnliche Materialität von Zum externen Inhalt: 35-mm-Film (öffnet im neuen Tab) spielt eine wichtige Rolle sowohl in der Handlung als auch in der Filmästhetik. Viele Zum Inhalt: Szenen stellen auch einen direkten Zusammenhang zwischen Schattentheater und Film her – das chinesische Wort für Film lautet "dianyin" und bedeutet "elektrische Schatten". Auch darüber hinaus betonen die Kameraeinstellungen (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) die Poetik des Lichts sowie die kalligraphische Schönheit von Landschaften und Gesichtern – und verbinden so das Kino mit chinesischen Kunsttraditionen. Wichtig ist auch der Schauplatz (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set): "Eine Sekunde" beginnt und endet in der Wüstengegend bei Dunhuang, einem bedeutenden Ort chinesischer Kultur. Diese Klammer wird zur Metapher für den Lebenskampf von Individuen, deren zeitliche Begrenztheit auf die zeitlose Natur trifft. Jede menschliche Spur – auch der Sekundenschnipsel des Films – verschwinden im Sand kosmischer Gleichgültigkeit.
Im Unterricht eignet sich "Eine Sekunde" , um die Diversität visueller Kulturen zu thematisieren: Anhand des Films lassen sich faszinierende Einblicke in das chinesische Kino und seine Wurzeln im Schattentheater gewinnen. Zhang Yimou ist eine Regie-Ikone der Zum externen Inhalt: Fünften Generation (öffnet im neuen Tab) von chinesischen Filmemacher/-innen, und obwohl er selbst angibt, keine politischen Filme zu drehen, ist er in seinem Land immer wieder politischer Zensur ausgesetzt. So konnte "Eine Sekunde" erst nach einem mit "technischen Gründen" erklärten Rückzug von der Berlinale 2019 mit zweijähriger Verspätung in einer offenbar veränderten Fassung gezeigt werden. Der Film bietet so Gelegenheit, im Fach Politik über Kunstfreiheit, Zensur und Staatskunst zu diskutieren: Wann ist Film Bildung, wann Propaganda, wann Kunst? Auch das kritische Potenzial von "Eine Sekunde" sollte analysiert werden: Der Film zeigt, wie Medien in der Kulturrevolution staatlich eingesetzt wurden, und gleichzeitig, wie individuelle Subversion, alternatives Denken und Solidarität sich dennoch einen Weg bahnen. Interessant ist auch der an der historischen Seidenstraße gelegene Drehort Dunhuang. Eine Recherche zum Ort kann als Basis für eine Thematisierung des aktuellen Seidenstraßenprojekts Chinas dienen.
Weiterführende Links
- External Link Filmwebseite auf MUBI
- External Link rnd.de: Artikel zum Film
- External Link fr.de: Filmbesprechung
- External Link deutschlandfunk.de: Artikel über die chinesische Kulturrevolution
- External Link New York Times: Artikel über die Entfernung des Namens der Autorin Yan Geling aus den Credits (engl.)
- External Link APuZ: Kulturrevolution