Das Gesicht der 52-jährigen Marisch ist von tiefen Falten durchzogen. Sie sieht älter aus als sie ist. Die Ungarin dient seit zehn Jahren einer Familie Sie muss ohne Lohn schuften, 20 Stunden täglich, sie wird misshandelt und darf das Haus nur mit Erlaubnis verlassen. Als die Filmemacherin Bernadett Tuza-Ritter zunächst mit einer anderen Intention vor Ort zu drehen beginnt, dauert es eine Weile, bis sie das Ausmaß der Freiheitsberaubung überblicken kann. Nach und nach realisiert sie, dass sie es mit einem Fall von moderner Sklavenhaltung zu tun hat. Marisch lebt in einem Zirkel der Angst, versucht aber dennoch, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Erst die Gegenwart der Filmemacherin macht ihr langsam klar, dass sie ein anderes Leben verdient. Nach zwei Jahren Dreh beschließt sie, zu fliehen.

Die Kamera begleitet Marisch von Anfang an mit Zum Inhalt: großer Nähe und lässt ihre Unterdrücker/-innen visuell stets im Zum Inhalt: Off. Doch auch ohne Gesicht prägt sich die Hausherrin Eta durch ihre Anweisungen ein – ungerecht, sadistisch, selbstherrlich. Sie diktiert die Bedingungen: Filmen darf die Regisseurin nur, wenn sie die Hausherrin dafür bezahlt und diese anonym bleiben kann. Eine Vereinbarung mit ethischen und praktischen Fragezeichen: Bis zum Schluss bleibt unklar, wie es der Zum Inhalt: Dokumentarfilmerin gelingen konnte, sich inmitten dieser illegalen Umstände relativ frei bewegen zu können. Als sie an einer Stelle die Polizei informiert, sind dem Beamten am Telefon Fälle dieser Art durchaus geläufig; man habe rechtlich jedoch keine Handhabe. Je länger die Zuschauenden allerdings Zeugen der entwürdigenden Lebenssituation werden, desto verständlicher wird die Paralyse, die Marisch zu umfangen scheint. Erst die klare Parteinahme der Filmemacherin gibt ihr die Kraft, sich der Misshandlung zu entziehen und sich ein neues Leben aufzubauen.

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A Woman Captured Trailer Deutsche Untertitel from Manuel Stettner on Vimeo.

Bernadett Tuza-Ritter hat einen Film gemacht, der Machtverhältnisse, strukturelle Gewalt und ihre Folgen sehr genau beobachtet. Sie bleibt allerdings nicht bei dieser Beobachtung stehen, sondern wird aktiv. Mit ihrem nachhaltigen Interesse macht sie Marisch deutlich, was diese selbst vergessen zu haben schien: "Du bist ein freier Mensch und niemand darf dir diese Freiheit nehmen." Im Unterricht lässt sich sowohl über dieses humanistische Grundprinzip diskutieren (zum Beispiel in Gemeinschaftskunde, Ethik oder Religion) als auch über die Frage sprechen, wie dieser Eingriff ins Geschehen durch die Regisseurin zu bewerten ist. Darf sie als Dokumentarfilmerin menschlich reagieren und die Lebensrealität ihrer Protagonistin so stark beeinflussen und verändern, oder sollte sie dokumentarische Distanz wahren?

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