Hatten Sie Vorbehalte, Ihre Lebensgeschichte in die Hände eines Regisseurs zu geben?

Ich hatte zunächst große Bedenken gegen jede Form von Zusammenarbeit. Es ging ja um den Versuch, die Welt in meinem Kopf zu verfilmen und da geht man als Autor davon aus, dass man das eigentlich nur selber kann. Auf der anderen Seite brauchte ich aber jemanden, der Filme machen kann.

Welchen Einfluss haben Sie auf die Form des Films genommen?

Ich war von Anfang bis Ende stark involviert, das habe ich mir gewünscht. André Schäfer hat es verstanden, das zu fördern, was gut war, und sich da selber eingebracht, wo seine Professionalität gefragt war. Ich bin mit dem Resultat sehr einverstanden. Wenn das nicht so gewesen wäre, hätte ich mich quergelegt.

Wo gab es dennoch Differenzen?

Vielleicht gibt es zwei oder drei Szenen, die ich oder er gerne anders gehabt hätten. Ganz zu Anfang gab es einen ewigen Zankapfel auf unterstem Niveau: Als es um die Atombombenversuche der Chinesen geht, steht die Kamera sehr lange auf einem Bild. Das wollte Schäfer unbedingt so haben, er sagte, das müssen wir so zeigen, ein Atompilz der braucht etwa zwölf Sekunden, bis er sich aufbaut. Ich fand diese Einstellung zu lang. Aber es waren wirklich Kleinigkeiten.

Ist der Film denn eine Eins-zu-Eins-Wiedergabe des Buches?

Nein, er ist eine dokumentarische Fiktion. Ich habe versucht, in Bildern umzusetzen, wie ich aufgrund meiner Erziehung die Welt gesehen habe. Ich habe vorab ein Treatment geschrieben und wir haben die Teile übernommen, für die wir passende Bilder gefunden haben. Es gibt altes Dokumentarmaterial des WDR über meine Familie, der Kameramann hat aber auch Super 8-Aufnahmen mit meinem kleinen Sohn gemacht. Er steht stellvertretend für mich und meine innere Welt. Und so bekam der Film nach und nach eine Dramaturgie, die sich etwas vom Buch entfernt.

Sie erzählen im Film sehr anschaulich, inwiefern sich Ihre Weltsicht von der ihrer Klassenkameraden unterschied. Hat Sie das zum Außenseiter gemacht?

In der Grundschule habe ich mich gar nicht als Außenseiter gefühlt, ich war Klassensprecher. Grundsätzlich sind keine politischen Gründe dafür verantwortlich, ob man sich als Außenseiter fühlt oder nicht. Es sind weniger die Umstände, sondern wie man sich damit arrangiert. Im Gymnasium war das schwieriger.

Warum?

Speziell auf die Pubertät war ich schlecht vorbereitet, denn mit allem, was in der Pubertät hip und toll ist, hatte ich Probleme. Zum einen waren wir nicht besonders modisch gekleidet und bekamen so gut wie kein Taschengeld. Und zum anderen war ich aus der gesamten Pop- und Rockmusikkultur ausgeschlossen. Meine Eltern haben mir das nicht verboten, aber amerikanische Musik wurde bei uns nicht gehört.

Auch in Ihrem filmischen Zeitspiegel tauchen Popkultur oder Flower-Power-Feeling nicht auf.

Das gab's bei uns zu Hause nicht und geht mir auch heute in den 68er-Reviews auf die Nerven. Ich hab nur das politische '68 mitbekommen.

Ihr Vater behauptet einmal, er habe seine Kinder nicht politisch erzogen. Gibt es denn so etwas wie eine unpolitische Erziehung?

Nein. Denn seine Werte bekommt man immer in der Kindheit vermittelt, einige wenige in der Jugend. Danach können noch Erkenntnisse hinzukommen, aber nichts mehr, was einem ans Herz geht. Ob man später das Bedürfnis hat, einen Sportwagen zu fahren, um damit andere Leute zu beeindrucken – die Keime dafür werden im Elternhaus gelegt. Ob intellektuelle Werte wichtiger sind oder materielle, das wird im Elternhaus festgelegt.

Was hat sie besonders geprägt?

Relativ wenig darauf zu geben, was andere über mich denken. Ich glaube, ich habe ein ganz gutes Selbstbewusstsein. Außerdem bin ich nicht besonders materiell. Ich verdiene ja im Augenblick viel Geld mit meinem Buch, weiß aber gar nicht, was ich damit machen soll. Die Gier nach weltlichen Gütern ist unterdurchschnittlich ausgeprägt.

Welche Bedeutung hatte die 68er-Bewegung für unsere heutige Gesellschaft?

Die 68er haben diesen kapitalistischen Staat, der zu ersticken drohte an katholischen Moralvorstellungen und antiquierter Bürgerlichkeit, flott gemacht – auch in ökonomischer Hinsicht. Sex und Musik sind ja riesige Märkte geworden und auch die Mode entwickelte sich zu einem gewaltigen Markt in einer Zeit, als sich die Leute noch siezten und mit Krawatten in die Unis spazierten. Diese individualisierte Lebenskultur hat dieses Land reich gemacht, nicht nur kulturell, sondern auch wirtschaftlich.

Das klingt ein wenig zynisch?

Ich glaube schon, dass dahinter ursprünglich andere sozialpsychologische Werte standen. Die Fragen, die damals gestellt wurden – wo stehen die Reichen, wo die Armen, warum werden Kriege geführt, warum wird in der Welt gehungert? – waren ja durchaus berechtigt. Und sie sind es immer noch. Aber solche politischen Idealismen haben immer nur eine eingeschränkte Halbwertzeit. Auf diesem Sektor haben die 68er fast gar nichts erreicht, da sind sie gescheitert.

Haben Sie deswegen auch diesen etwas melancholischen Titel gewählt – Lenin kam nur bis Lüdenscheid?

Lüdenscheid liegt 40 Kilometer östlich von meiner Heimatstadt Solingen. Dort fanden die Pfingstlager der SDAJ statt, und da war Lenin überall präsent, alleine schon auf den roten Fahnen. Wenn ich dort war, war das einer der wenigen Momente, in denen ich mit politisch Gleichgesinnten aktiv war und so etwas wie eine Heimat gefühlt habe. Ich habe keine Heimat Deutschland, ich bin noch heute beim Fußball immer für die anderen, weil mir jede Form von Nationalismus von Anfang an madig gemacht worden war. Heimat habe ich empfunden in der Gesellschaft von mir positiv erscheinenden, lustigen Linken.