Eine Fernsehwerbung zeigt hohe, fantastische Gebäude. Eine fremde Stadt mit beeindruckender Skyline. Die Wände eines dieser riesigen Wolkenkratzer müssen sich vortrefflich bemalen lassen, denkt sich die Hauptfigur in Nata Metlukhs
Kurzfilm Paper or Plastic. Fasziniert zieht der Graffiti-Künstler mit einem ehrgeizigen Traum los. Er will dieses Gebäude bemalen. Kurz darauf wird der Künstler zum Migranten. Doch kaum ist er im Land seiner Träume angekommen, wird aus dem Traum schnell ein Albtraum. So sehr er sich an die neuen Gegebenheiten des anderen Landes anzupassen versucht, so sehr halten ihn Diskriminierung und unverständliche Regeln von seinem eigentlichen Traum ab. Stattdessen versucht er unter schlechten Arbeitsbedingungen Geld zu verdienen. Am Ende scheinen Vorurteile, Diskriminierung und Ausbeutung so stark zu sein, dass er desillusioniert in seine Heimat zurückkehrt. Doch auch die hat sich mittlerweile verändert.
Migrationserfahrungen in komprimierter Form
Paper or Plastic ist ein
animierter Kurzfilm, der in wenigen Minuten und auf sehr komprimierte Art und Weise die komplexen Probleme zusammenfasst, mit denen Einwanderinnen und Einwanderer in einem neuen Land konfrontiert werden. Der Einwanderungsprozess stellt große Herausforderungen an jeden Neuankömmling: Die komplexe Bürokratie bei der Ankunft und im Bemühen um einen Aufenthaltsstatus, schlecht bezahlte Jobs, teurer Wohnraum und oft ein erschwerter Zugang zur lokalen Infrastruktur, etwa zur Krankenversorgung. Kulturelle Unterschiede, mangelnde Sprachkenntnisse, Diskriminierungserfahrungen und nicht zuletzt gesellschaftliche Isolation spielen dabei häufig eine Rolle.
All diese Probleme greift die in der Ukraine geborene und in den USA arbeitende Animationskünstlerin Nata Metlukh in ihrem Kurzfilm auf. In kurzen, teils grotesken Episoden lässt sie ihren Protagonisten Stück für Stück an jeder einzelnen Herausforderung scheitern. So muss der Neuankömmling beispielsweise einen Messerangriff erleben. Er wird dabei verletzt, muss ins Krankenhaus und sich dort erstmal mit zermürbender Bürokratie auseinandersetzen – während das Messer weiterhin in seinem Rücken steckt. Ein andermal wird er bestohlen und dann von der Polizei wegen seines Andersseins selbst verdächtigt. Mit seiner türkisen Hautfarbe und einer stiftförmigen Nase unterscheidet sich der Protagonist nämlich sichtbar von der Mehrheitsgesellschaft seiner neuen Heimat.
Entrückte Bildwelten, grotesker Humor
Die farbenfrohen Animationen und der teils poppige
Soundtrack wirken allerdings meist unbeschwert und wie ein stilistischer Kontrapunkt. Die Eigenheiten der Einwohner/-innen des namenlosen Landes werden dabei lakonisch-dadaistisch zelebriert. So tragen die orangefarbenen Figuren maskenhafte, verzerrte Münder. Musiker spielen ohne Instrumente. Die Zebrastreifen werden rhythmisch und nur im Rückwärtsgang betreten. Hinter jedem dieser Bilder verbirgt sich eine lähmende Regel, die es dem Protagonisten erschwert, mit den Gegebenheiten zurechtzukommen.
Wirtschaftliche Not und Perspektivlosigkeit, Klimakrise, Krieg und Verfolgung – die Gründe für Migration sind vielfältig. Um die alltäglichen Probleme von Migranten zu sezieren und allgemeingültig zu abstrahieren, greift Regisseurin Nata Metlukh auf die Mittel der Kunst zurück. Stilistisch zeigt sie sich von den entrückten Bildwelten der Dadaisten und Surrealisten aus den 1920er-Jahren inspiriert – sowie vom grotesken Humor der TV-Cartoons. Der Wunsch ihres Protagonisten, eines der höchsten Gebäude zu bemalen und dafür in ein anderes Land auszuwandern, ist ein Ausdruck absoluter Freiheit in der künstlerischen Produktion. Metlukh betont die Wirksamkeit der Kunst und ihren ungewöhnlichen Blick auf die Welt. Denn aus der sozialen Erfahrung des Künstlers werden neue Perspektiven offenbart.
Das Dossier "Kurzfilme für Jugendliche" finden Sie auch als PDF-Druckversion in der rechten Spalte. Zur folgenden Aufgabe für den Schulunterricht gibt es im PDF einen didaktisch-methodischen Kommentar.
Arbeitsblatt zu Paper or Plastic
Fächer: Deutsch, Englisch, Kunst, Politik/Sozialkunde ab Klasse 11
Nach der ersten Filmpräsentation:
a) Formulieren Sie spontane Eindrücke und Fragen.
b) Fassen Sie den Inhalt des Films zusammen. Tauschen Sie sich über das Thema des Films aus.
c) Sehen Sie sich den Film noch einmal an. Gliedern Sie den Film in Erzählabschnitte.
d) Notieren Sie die Schwierigkeiten des Immigranten bei seiner Einreise und im neuen Land.
e) Analysieren und interpretieren Sie in Einzelarbeit die künstlerische Gestaltung (u.a.
Farbgebung,
Ton) des
Kurzfilms und stellen Sie dar, wie diese die Schwierigkeiten des Immigranten bei der Ankunft im neuen Land hervorheben. Gehen Sie im Schussteil auf eine mögliche Aussageabsicht der Regisseurin ein.
f) Bilden Sie Kleingruppen (maximal vier Schülerinnen und Schüler), in denen Sie einander ihre Ergebnisse vorstellen.
g) Stellen Sie im Plenum Hypothesen auf, die erklären, warum der Film den Titel
Paper or Plastic trägt, und diskutieren Sie diese im Plenum. Überprüfen Sie Ihr Ergebnis
hier.
h) Entwerfen Sie in Gruppenarbeit ein
Storyboard, das im Kontrast zum Kurzfilm eine hoffnungsvolle Entwicklung von gelingender Integration zeigt.
i) Stellen Sie Ihre Storyboards vor, unternehmen Sie einen Gallery Walk und geben Sie einander kriterienorientiertes Feedback.
Autor/in: freier Film- und Kulturjournalist aus Berlin (Filmbesprechung); Dr. Ulrich Kumher, Autor filmpädagogischer Materialien (Arbeitsblatt), 04.09.2019
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