Einführung
Schule - Erziehung für das Leben?
Mit dem Beginn des Jahres 2003 hebt das KINOFENSTER seine Funktion als Multiplikator im Bildungsbereich und als Mittler zwischen Film und Pädagogik hervor. In der ersten Themenausgabe des Jahres möchte der Themenbereich "Schule und Film" zur Auseinandersetzung anregen. Die Aufgaben der Schule sind im Wandel begriffen . Stand in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die reine Wissensvermittlung im Vordergrund, ist die Schule durch ein verändertes Sozialgefüge (z. B. berufstätige Eltern, "Wohlstands"-Verwahrlosung, Überforderung vieler Eltern in der Erziehung, zunehmende Komplexität des Alltags) heute gefordert, verstärkt auch wieder allgemeine pädagogische und vor allem erzieherische Aufgaben zu übernehmen. Spektakuläre Gewaltakte von Schülern in und außerhalb der Schule haben ein zusätzliches Licht auf die mangelhafte Sozialisation, insbesondere den Verlust von traditionellen Moralvorstellungen und die Senkung von Hemmschwellen bei einem Teil der Jugendlichen geworfen.
"PISA-Studie" als Katalysator
Die Diskussion darüber, ob die Schule (noch) in der Lage sei, Kinder und Jugendliche adäquat "auf das Leben" vorzubereiten bzw. welche Funktionen der Schule grundsätzlich beizumessen seien, ist nicht neu. Vor dem Hintergrund des schlechten Abschneidens von Deutschland bei der "PISA-Studie" und verstärkten bildungspolitischen Bemühungen um Ganztagsschulen nach dem Vorbild anderer europäischer Länder gewinnt sie aber neue Dimensionen und besondere Aktualität.
Das fliegende Klassenzimmer
Vier Filme zum Thema
Im Januar 2003 starten gleich drei Spiel- und Dokumentarfilme im Kino, die der auf einer breiten gesellschaftlichen Basis geführten Auseinandersetzung einige interessante Aspekte hinzufügen und die Bedeutung von Erziehung und Schule für die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft aus historischer wie aus aktueller Sicht hervorheben. Die Kinofenster-Themenausgabe berücksichtigt diese außergewöhnlichen und zum Teil preisgekrönten Filme zusammen mit dem Kinoklassiker
Der Club der toten Dichter, der sich wie kaum ein anderes vergleichbares Werk gegenüber schnelllebigen Modeerscheinungen im Bereich der zahlreichen Schul- und Highschool-Filme als beständig erwiesen hat und bis heute gerne auch von jüngeren Menschen gesehen wird.
Lernziel soziale Kompetenz?
Alle vier Filme erzählen von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens, zu denen auch das Lernen und die Übernahme von Verantwortung und Werthaltungen gehören. Thematisiert werden auch verschiedene Schul- und Erziehungssysteme und unterschiedliche Lehrerpersönlichkeiten, die den Kindern und Jugendlichen auf ihrem Weg behilflich sind oder deren Bedürfnisse sträflich vernachlässigen. Tomy Wigands auf die Gegenwart bezogene Neuverfilmung
Das fliegende Klassenzimmer nach dem Roman von Erich Kästner spielt im Internat des Thomanerchors in Leipzig und zeigt sehr "menschliche" und verständnisvolle Lehrer. Ein Schülerneuzugang, der bereits mehrmals aus anderen Internaten geflogen ist, findet dort u. a. über musische Beschäftigung, gegenseitigen Respekt und Freundschaft zu einem gesunden Selbstwertgefühl und zu einer inneren Heimat. – Das krasse Gegenteil ist in Peter Mullans in Venedig 2002 mit dem "Goldenen Löwen" ausgezeichneten Film
Die unbarmherzigen Schwestern der Fall. Er zeigt authentische Zustände aus den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einer irischen Klosterschule für "gestrauchelte" junge Mädchen. Sie wurde von einem Schwesternorden im Auftrag der Katholischen Kirche geführt und degradierte die Schutzbefohlenen zu eingesperrten Sklavinnen. Obwohl sich Mullan auf exakte historische Recherchen berufen kann und das letzte derartige Heim erst 1996 geschlossen wurde, protestierte der Vatikan in Venedig heftig gegen diesen Film.
Sein und Haben - Etre et avoir
Der Lehrer als Vorbild?
Eine Zwischenstellung zu diesen beiden Filmen nimmt der Filmklassiker
Der Club der toten Dichter von Peter Weir ein. In einem autoritär geführten Internat für zukünftige Führungskräfte versucht ein neuer Lehrer mit unkonventionellen Methoden, das Interesse seiner Schüler auch für Dinge zu wecken, die nicht der reinen Wissensvermittlung dienen. Sein Aufruf zur Selbstverwirklichung mittels der Poesie und zu eigenständigem Denken führt allerdings zum Selbstmord eines besonders begabten Schülers. – Der nach dem kulturkritischen Sachbuch von Erich Fromm betitelte französische Dokumentarfilm
Sein und Haben von Nicolas Philibert wurde wegen seiner ungewöhnlichen Machart und herausragenden Qualität bereits als "Europäischer Dokumentarfilm 2002" ausgezeichnet. Philibert beobachtet über mehrere Monate hinweg den Alltag in einer typischen Dorfschule, wie sie in Frankreich noch häufig anzutreffen ist. Dort betreut ein einziger Lehrer gleichzeitig Kinder vom Vorschulalter (école matrimoniale) bis zur 5. Grundschulklasse. Mit vollem Engagement, etwas Strenge und viel Geduld versucht er ihnen soziale Verhaltensweisen beizubringen und sie allgemein "auf das Leben" vorzubereiten.
Autor/in: Holger Twele, 01.01.2003