"Das Glück ist bis ins Unendliche verteilt. Und das Unglück auch ...", so lässt Erich Kästner Jonathan Trotz in seinem Buch "Das fliegende Klassenzimmer" räsonieren. An anderer Stelle spricht er seine Leser direkt an: "Macht euch nichts vor, und lasst euch nichts vormachen." Kästner nahm die jungen Leser ernst. Er entführte sie gelegentlich in eine märchenhafte, nie aber lähmende Scheinwelt und er benannte die realen Schwierigkeiten, ohne in Resignation zu verfallen. Kästner wollte Mut machen, der eigenen Kraft und Kreativität zu vertrauen. So wurden seine Kinderromane und besonders "Das fliegende Klassenzimmer" aus dem Jahre 1932 zu "Trostbüchern" für alle, die sich unsicher fühlen oder in psychische Not geraten sind.
Aneignung von sozialer Kompetenz
Die nunmehr dritte filmische Adaption der bekannten Internatsgeschichte knüpft kongenial an die ideellen Vorgaben des Autors an und transformiert sie in die Gegenwart. So gewaltig sich auch die äußeren Rahmenbedingungen unseres Lebens in den vergangenen 70 Jahren geändert haben, Kästners Wertekanon hat an Aktualität nichts eingebüßt. Freundschaft, Heimat, Geborgenheit und vor allem Vertrauen gewinnen angesichts der dynamischen globalen Prozesse mehr denn je an Bedeutung. Nicht zuletzt machte das die viel diskutierte "PISA-Studie" deutlich. Das eigentliche Defizit in unseren Schulen – auch ein Spiegel der Gesellschaft – liegt weniger im Bereich der Wissensvermittlung, als in dem der sozialen Kompetenzentwicklung. Der Film macht durch ein vorangestelltes Kästner-Zitat deutlich, dass er sich dieser Zusammenhänge stellen will: "Wie kann ein erwachsener Mensch seine Jugend so vollkommen vergessen, dass er eines Tages überhaupt nicht mehr weiß, wie traurig und unglücklich Kinder zuweilen sein können?"
Stimmige Aktualisierung der Romanvorlage
Regisseur Tomy Wigand und seine Autorinnen haben bei ihrer Adaption den Grundgestus der literarischen Vorlage wohlweislich beibehalten. Kästner hatte seine moralischen Botschaften geschickt in spannende und aktionsreiche Geschichten eingebunden. Daran galt es festzuhalten, gleichzeitig einen modernen Rahmen zu finden und dem geänderten Emanzipationsverständnis heutiger Kinder gerecht zu werden: Der verehrte Lehrer Dr. Bökh wurde vom Thron genommen und bekam eine richtige Biographie, die ihm beispielsweise auch Schwächen für eine schöne Kollegin erlaubt. Der "Nichtraucher" ist nun ein interessanter erwachsener Kumpel, der überraschend auftaucht und nicht mehr unmittelbar regulierend in die Konflikte der Kinder eingreift. Aus dem Jungen Egerland, dem ritterlichen Anführer der konkurrierenden Clique, wurde das Mädchen Mona. Um die soziale Differenzierung der Gesellschaft in heutigen Internaten noch sichtbar machen zu können, wurde die Handlung in das Schulheim des Leipziger Thomaner-Chors verlegt, wo als Aufnahmekriterium nicht das Geld der Eltern, sondern allein Begabung zählt. Als erfreulicher Nebeneffekt verleiht dieser Handlungsort mit Stellen aus Bachs Weihnachtsoratorium dem Film fast beiläufig einen opulenten akustischen Rahmen.
Die DDR als historischer Hintergrund
Jonathan Trotz kommt als Neuling in das Thomaner-Internat. Seine Erwartungen an die Schule sind nicht groß. Immerhin ist er schon mehrfach aus ähnlichen Einrichtungen verwiesen worden. Doch in Leipzig geschehen scheinbar Wunder. Er findet mit Martin, Matz, Uli und Kreuzkamm junior Freunde, die seine Individualität achten und ihm gleichzeitig solidarische Geborgenheit geben. Kantor Bökh ist konsequent und genau, aber er nimmt sich Zeit beim Beurteilen seiner Schüler, versucht sich selbst immer auch als kleinen Jungen zu sehen und daraus Vergleiche zu ziehen. Kästners Vorgabe der ungerechten Strafe, die Bökh einst selbst erfahren hatte und die sein Freund übernommen hatte, wird erweitert und sozial auf die Verhältnisse in der einstigen DDR zugeschnitten. Bökhs früherer Freund hatte das Land verlassen, weil er die Enge dort nicht mehr aushalten konnte. Auslöser war das gemeinsam mit Bökh geschriebene Stück "Das fliegende Klassenzimmer", das von freier Persönlichkeitsentfaltung handelte und deshalb von den damaligen Schuloberen nicht erwünscht war.
Mut zur Poesie
In der Gegenwart finden die befreundeten Internatsschüler dieses Manuskript in einem Versteck. Sie wollen den Text gegen den überraschenden Widerstand Bökhs zur Aufführung bringen, weil sie sich davon ebenfalls angesprochen fühlen. Das führt beinahe zu einer Katastrophe. Doch Bökh ist selbstkritisch in der Lage, Fehler auch bei sich zu suchen. Ihm zum Dank präsentieren die Schüler am Ende seinen alten Songs in einer modernen Rap-Version. Darin heißt es, man solle sich nicht verbiegen lassen, nicht den Kopf in den Sand stecken und man möge Optimist bleiben, der das Jammern vergisst. Aber zu allem braucht man Mut – so wie der kleine Uli. In der Neuverfilmung ist sein Fenstersprung nicht wie in früheren Versionen ein freier Fall an einem Regenschirm. Gefilmt in poetischen Bildern erlebt der Junge einen Moment des Schwebens an zwei Ballons. Vor dem Absturz sieht man sein stolzes und glückliches Gesicht. Er hat es geschafft, sich von seinen Ängsten frei zu machen.
Eine humanistische Botschaft
Das Ende des neuen Films ist nicht weniger märchenhaft, als die literarische Vorlage. Das geht ans Herz und wirkt fast schon rührselig. Andererseits hebt es Kästners Botschaft noch einmal hervor, was man tun kann, wenn sich die ganze Welt gegen einen stellt: Es helfen nur Solidarität, das sich gegenseitig Zuhören und das Zeigen von Gefühlen. Auf diese Weise fühlen sich Kinder und Erwachsene gleichermaßen angesprochen.
Autor/in: Klaus-Dieter Felsmann, 01.01.2003