Rasanter Klimawandel
Hin und wieder die Welt zu retten, gehört für Filmhelden/innen zum Geschäft. Kaum einer erschien dafür bis vor kurzem so ungeeignet wie der ehemalige Vizepräsident der USA, Al Gore. Die juristisch entschiedene Niederlage gegen George W. Bush im Präsidentschaftswahlkampf 2000 hätte ihn eigentlich von der politischen Landkarte fegen sollen. Nun steht er in seiner Dia-Show über den rasanten Klimawandel vor Landkarten, die Wirbelstürme und Flutkatastrophen verzeichnen, verkündet den drohenden Kollaps – und bekommt rauschenden Beifall. Seine Vorstellungsformel ist mittlerweile Kult: "Guten Abend. Mein Name ist Al Gore, ich war eine Weile lang der nächste Präsident der Vereinigten Staaten." Sie ist auch dem Film vorangestellt, den Regisseur Davis Guggenheim aus Gores Auftritten montiert hat.
Katastrophen und ansteigende Temperaturkurven
Man könnte
Eine unbequeme Wahrheit als Albtraumszenario bezeichnen, wäre da nicht diese Mischung aus tiefster Überzeugung, Nüchternheit und Lösungsvertrauen, die Gores Charisma ausmacht. Der Film besteht tatsächlich aus kaum mehr als seiner "Slide-Show", wie er sie ganz bescheiden nennt. Schon vor dem Wahlkampf war er mit ihr auf Tour, danach hat er sie wieder aufgenommen. Der Ablauf ist immer derselbe: Al Gore steht vor einem neugierigen Publikum und präsentiert ihm das, was er die "unbequeme Wahrheit" nennt. Mit Fotos aus Katastrophengebieten, Temperaturkurven und animierten Grafiken etwa zur Polkappenschmelze veranschaulicht er den faktisch nicht widerlegbaren Klimawandel und beschwört die Notwendigkeit des schnellen Handelns. Wir sehen, wie sich der "Schnee am Kilimandscharo" in den letzten Jahrzehnten verflüchtigt hat, wie aus dem einst stolzen Colorado River ein trübes Rinnsal wurde oder wie die Verteilungskurven von CO2-Ausstoß und Temperaturentwicklung in den letzten Jahren parallel nach oben schossen.
Konzeption und Motivation
Geschickt vermeidet
Eine unbequeme Wahrheit eine selbstgefällige Personalisierung des Protagonisten. Die Manipulationen, mit denen George W. Bush die Wahl des Jahres 2000 gewann, waren bereits Thema in Michael Moores Doku-Spektakel
Fahrenheit 9/11. Mit seinem dokumentarischen Konzept ist Guggenheim hingegen peinlich darauf bedacht, Moores zuweilen spekulativen und populistischen Ansatz zu vermeiden. Statements, in denen Bush und seine Senatoren den Herausforderer als ökologischen Spinner abkanzeln, wirken zwar durchaus entlarvend und suggerieren, dass die Wahl den "falschen Mann" traf, sind jedoch im Gesamtkontext unauffällig platziert. Überzeugend benennt Gore persönliche Grenzerfahrungen als Motivation, seinen Kampf gegen das "Global Warming" noch engagierter zu führen: Ein schwerer Unfall seines Sohnes und der Tod seiner Schwester durch Lungenkrebs – der Vater war Tabakfarmer – haben ihn mit der Lebensfrage des "Verlusts" konfrontiert. Die "fahrende Dia-Show" erscheint neben seiner lebenslangen Beschäftigung mit ökologischen Fragestellungen vor allem als Produkt eben dieser Erkenntnisprozesse. Bilder eines nachdenklichen Al Gore in der ruhigen Abgeschiedenheit seines Arbeitszimmers, nachgestellte Krankenbettszenen oder Familienfotos inszenieren die privaten Lebens- und Erfahrungsbereiche des Protagonisten. Die biografischen Einsprengsel bilden gleichermaßen das emotionale Fundament des dokumentarischen Feldzugs gegen die drohende Umweltkatastrophe.
Propaganda für eine gute Sache
Wie in einer Infotainment-Show, die Information mit Unterhaltung verknüpft, hat sich Guggenheim bemüht, die trockenen Fakten ansprechend aufzubereiten. Amüsante Trickfilme gehören zum Programm. Bildstrecken und Grafiken, von denen einige speziell für den Film geschaffen wurden, arbeiten mit einer Anschaulichkeit, die aus dem Fernsehen gewohnte Präsentationsformen bei weitem übertreffen. Gores Vortragsstil ist professionell variabel: Er kann aus seinem einstigen Versagerimage Lacher generieren und erntet im nächsten Moment tiefste Betroffenheit. Zweifellos stehen der Film und sein Protagonist ganz im Dienst der guten Sache, nämlich des umweltpolitischen Appells. Als Agitationsinstrument kann ein Film natürlich ungleich wirksamer sein, als eine Ein-Mann-Show. Aber die allzu offensichtliche Inszeniertheit hebelt den dokumentarischen Anspruch einer rein sachlichen Sujet-Annäherung bereits im Kern aus. Das Publikum wiederum kann sich des zwiespältigen Gefühls nicht erwehren, zum Objekt einer perfekt gestalteten Werbekampagne geworden zu sein – auch wenn diese einem "höheren" Zweck dienen soll.
Das Idealbild eines Politikers
Dabei ist Gore als Person durchaus glaubhaft. Im Grunde bedient er das Idealbild des Staatsmannes, der aus seiner inneren Überzeugung heraus Handlungsalternativen vorschlägt. Auch der Klimawandel ist zunächst ein Sachzwang. Aber in der Wahl der Alternativen – Sparautos, schadstoffarme Heizungsanlagen, erneuerbare Energien, nicht zuletzt das persönliche Engagement in entsprechenden Organisationen – appelliert Gore ans freie Individuum. Er zitiert Mark Twain: "Das Problem ist nicht unser mangelndes Wissen, sondern unsere feste Überzeugung von Dingen, die falsch sind", und bezeichnet den politischen Willen als "erneuerbare Energie".
Bewusstseinswandel?
Aus dem ökologischen Spinner ist ein sendungsbewusster "Filmheld" geworden, neben dem die Skeptiker/innen des "Global Warming" wie ahnungslose Laien dastehen. Er profitiert davon, dass die Amerikaner nach Wirbelstürmen wie Katrina und regelmäßig wiederkehrenden Hitzewellen hellhörig geworden sind. Jedes Ereignis wird von ihm umgehend in seinen Vortrag aufgenommen, mit jeder Show kommt er seinem Anliegen, seine Landsleute und ihre Regierung aufzurütteln, ein wenig näher. Ob sich das neue Bewusstsein vom Klimawandel auch in den USA bald in politischen Taten und persönlichen Verhaltensänderungen niederschlägt, wird sich zeigen. Aber für dieses gestiegene Bewusstsein kann vielleicht auch dieser faszinierende, bedrohliche und durchaus ambivalente Film einen wichtigen Beitrag leisten.
Autor/in: Philipp Bühler, 29.09.2006