"Schon mit sechs wollte ich Richterin werden, bekleidet mit einer langen schwarzen Robe,
und nichts darunter", gesteht die erfolgreiche Anwältin Eve (hervorragend: Tilda Swinton) ihrer Geliebten nach ihrer bevorstehenden Ernennung zur Richterin. Das entspricht dem klischeehaften, androgynen Bild einer auch sexuell attraktiven, scheinbar selbstbewussten Karrierefrau, das sie von sich selbst hat: einerseits hohe Professionalität in einem bisher weitgehend den Männern vorbehaltenen Bereich, andererseits voller sexueller
und erotischer Begierden. Sie glaubt ihr Leben bis ins letzte Detail unter Kontrolle zu haben
und hebt ihre Weiblichkeit geradezu obsessiv
und unaufhörlich hervor. Jede Bewegung, jede Geste scheint eingeübt, sie steht ständig unter Hochspannung
und am Rande der Hysterie. Doch die Indizien für ihre eigentliche Unsicherheit häufen sich: Bei der Arbeit kann sie ihre Sucht auf Bonbons nicht zügeln, sie zweifelt an ihrer Kompetenz für das Richteramt, ihr Liebhaber weist sie trotz ihres unwiderstehlichen Äußeren zurück, selbst ihre neueste Eroberung, eine sensible Psychologin, die Eves neurotisches
und zwanghaftes Verhalten durchschaut, macht einen Rückzieher. Endgültig aus der Bahn geworfen wird sie durch ihre Schwester Madelyn (Amy Madigan), die das genaue Gegenteil von ihr ist: frigide, schlecht gekleidet, in einfachen Wohnverhältnissen lebend. Wegen
wiederholten Ladendiebstahls landet sie im Gefängnis. Eve versucht ihr aus der Patsche zu helfen. Dabei stößt sie auf einen Super 8-Film aus ihrer Kindheit, der Erinnerungen an die Demütigung der Mutter durch ihren Vater weckt. Mehr
und mehr wird sie von sexuellen Fantasien
und Angstträumen heimgesucht
und gequält. In surrealen Bildern bedrängen sie machistische Männer. Eine Art Urmutter erscheint ihr als hässlicher, fetter
und passiver Gegenentwurf zu ihrem Bild von Weiblichkeit; immer
wieder wird sie als Betrügerin angeklagt. Der ihre berufliche Karriere entscheidende Gouverneur zerstört mit seinen Fragen nach ihrem Familienwunsch endgültig ihren konstruierten Mythos von moderner Weiblichkeit. Erst als sie sich offen ihre Verzweiflung
und Ängste zugesteht, fühlt sie sich in der Lage, sich mit ihrer Schwester zu versöhnen, die ihren inneren Schmerz durch Kleptomanie abreagieren musste. Sie erkennt, dass sie
wie mit einer Nabelschnur bisher an die Vorstellung ihres Vaters von Weiblichkeit gebunden war
und nimmt sich zum ersten Mal so wahr,
wie sie ist.
Seine Geschichte erzählt der Film in einer geradezu avantgardistischen Bildsprache
und mit provokativer Konsequenz, was allein schon den Film sehenswert macht – nicht nur für Frauen. Mit entlarvenden Nahaufnahmen
und langen Einstellungen erforscht die Kamera Eves Seelenleben, ohne die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt auszublenden. Auch Dekor
und Farben entsprechen der innerlichen Befindlichkeit. Susan Streitfeld zeigt die Frau nicht mehr so sehr als Opfer einer männlichen Gesellschaft, sondern vor allem als Opfer ihres eigenen fatalen Missverhältnisses von Wunschbild
und Wirklichkeit. Eve tauschte die Zwänge des Hausfrauendaseins gegen die Tyrannei der Karrierefrau
und entwickelte ihr Bild von Weiblichkeit konträr zu dem ihrer Mutter, um nicht ebenfalls Objekt der väterlichen Verachtung zu werden. Die minutiöse Beobachtung
und assoziativen Fantasien
und Träume gleichen einem psychoanalytischen Prozess, der allmählich Eves Persönlichkeitsstruktur aufschlüsselt. Durch das Bewusstwerden verdrängter Erinnerungen findet Eve schließlich zu sich selbst. Vielleicht ist das ein, wenn auch verhalten positiver Ausblick auf die weibliche Selbstverwirklichung, eine Art kathartischer Prozess, dem sich auch die Zuschauer(-innen) nicht entziehen werden können. Dabei gibt der Film keine Patentrezepte, worin nun das Heil der Frauen zu suchen sei. Im Gegensatz zu vielen früheren 'Frauenfilmen'
und zur feministischen Philosophie der letzten Jahrzehnte stellt er keine Feindbilder mehr auf (die Männer, die Gesellschaft, die Verhältnisse...). Derart zurückgeworfen auf sich selbst, steht die Frau vor der schwierigen Aufgabe, den Stereotypen eines Frauenbildes zu entkommen, die sowohl durch die individuelle,
wie durch die gesellschaftlich kulturelle Geschichte geprägt sind. Wohin der Weg sie führt, bleibt offen. Sicher ist nur, dass er steinig
und holprig sein wird.
Autor/in: Petra Maier-Schoen, 01.08.1996