Eine Schule im Ausnahmezustand
Eine
Luftaufnahme zeigt das Treiben auf einem Schulhof im winterlichen Montreal. Die Schulglocke läutet, Gelächter, Kreischen, Kinder und Lehrer/innen – eine Schule am Morgen. Doch schnell wird klar, dass der Film
Monsieur Lazhar nicht vom "normalen" Schulalltag erzählen wird, wie es die Filme
Die Klasse (Entre les murs, Laurent Cantet, Frankreich 2008) und
Sein und Haben (Être et avoir, Nicolas Philibert, Frankreich 2002) eindrücklich getan haben. Denn als der 12-jährige Schüler Simon den Klassenraum betreten will, findet er seine Lehrerin, die sich dort erhängt hat. Mit dieser furchtbaren Entdeckung ist der Schulalltag außer Kraft gesetzt. In dieser Ausnahmesituation bietet sich bald der algerische Immigrant Bachir Lazhar als Vertretungslehrer an.
Der Neue ist anders
Während die Schulkinder mit den schockierenden Bildern in ihren Köpfen und ihrer Trauer kämpfen und Lehrkräfte wie Eltern nach schnellen, professionellen Problemlösungen suchen, bewegt sich der neue Lehrer vorsichtig auf seine Schüler/innen zu. Einen Weg zurück zur Normalität wird es mit ihm nicht geben. Nicht nur weil seine Anwesenheit die Kinder an den Tod der Lehrerin erinnert, sondern auch, weil er gewohnte Abläufe auf die Probe stellt. Die Frage nach seiner Herkunft stellt sich in dem Moment, in dem Bachir Lazhar seinen Namen an die Tafel schreibt. Moderne Unterrichtsmethoden sind ihm fremd, genauso wie aktuelle Grammatikregeln. Zu guter Letzt diktiert er auch noch Balzac und ein Schüler erntet für eine Aufmüpfigkeit einen Klaps auf den Hinterkopf. All dies löst bei der Klasse zunächst Befremden aus, doch schon bald kommen Lehrer und Kinder einander näher.
Gefühle ohne Melodramatik
Der Film
Monsieur Lazhar verharrt nicht in der Geschichte über den Suizid einer Lehrerin. So wie sich die Mühlen in der Institution Schule weiterdrehen, müssen auch die Schüler/innen voranschreiten. Und so tut es auch der Film über die Handlungszeit eines Schuljahres hinweg in seinem ruhigen Tempo. Es gelingt ihm eine große Nähe zu den Protagonisten/innen aufzubauen und deren Emotionen in stillen Einstellungen einzufangen. Auf eindringliche Art und Weise zeigt er, wie die Kinder, vor allem die Hauptfiguren Simon und Alice, mit ihren Gefühlen leben, welche Wege der Auseinandersetzung sie beschreiten und in welche Konflikte sie darüber mit sich selber und ihren Freunden/innen geraten. Aus diesem Grund kippt der Film trotz seiner hochgradigen Emotionalität nie ins Melodramatische. Die
Farbgestaltung ist geprägt durch das anfangs noch winterliche weiße Licht, was sich auf glatten Oberflächen und hellen Blusen spiegelt und Sachlichkeit vermittelt, welche durch die Wärme der
knappen, aber treffsicher eingesetzten
Musik aufgelöst wird. Die Kamera rückt einfühlsam auf Distanz, je tiefer der Blick in die Gefühlswelt der Kinder eindringt – eine Entsprechung zum umsichtigen Verhalten des neuen Klassenlehrers. Diese Bildstrategie trifft auch in Hinsicht auf Monsieur Lazhar zu und spiegelt sich in der Cadrage wider. Nicht selten wird der Lehrer in Einstellungen gezeigt, die seine Figur zwischen Vorder- und Hintergrund einrahmen, in dem die Kamera etwa durch Geländer oder Fensterrahmen auf ihn schaut. Das lenkt den Blick auf ihn, symbolisiert zugleich aber auch seine Isolierung.
Das Geheimnis des Monsieur Lazhar
Während sich das Kollegium um Regeln, Ansprüche der Eltern wie auch administrative Hürden herum windet und dabei nicht nur den Gefühlen der Kinder, sondern auch den eigenen Empfindungen aus dem Weg geht, stellt sich Monsieur Lazhar empathisch den Fragen und inneren Konflikten seiner Schüler/innen. Was in dieser Situation der gesamten Schule verborgen bleibt, der Zuschauende aber in einem parallelen Handlungsstrang erfährt: Bachir Lazhar trägt selbst schwer an einem Schicksalsschlag und einer Notlüge. Weder ist er tatsächlich Lehrer, noch ist sein Aufenthalt in Kanada gesichert: Seine politisch aktive Frau und seine Kinder kamen in Algier unter mysteriösen Umständen ums Leben. Sein Asylverfahren ist noch nicht abgeschlossen und er muss sich vor Gericht unbequemen Fragen stellen, etwa warum er allein nach Montreal flüchtete und seine Familie in Algerien zurückließ.
Das Trauma der Kinder
Kann man die innere Zerrissenheit und Trauer von Bachir Lazhar nur erahnen, so gelingt es ihm, den schwelenden Konflikt zwischen Alice und Simon und die Qualen des Jungen zu Tage zu fördern. Die beiden Kinder eint die geteilte Trauer um die geliebte Lehrerin, jedoch trennt sie ihr gegensätzlicher Umgang mit ihr. Während die reifere Alice auf Konfrontation setzt und wiederholt den Suizid der Lehrerin thematisiert, mimt Simon den Klassenclown oder reagiert mit Aggressivität. Schließlich erweist er sich aber als am stärksten traumatisiert. Die Selbsttötung im Klassenraum zur Stunde seines wöchentlichen Milchholdienstes versteht er als Schuldzuweisung durch seine Lehrerin. Obwohl ihm diese Sorge genommen werden kann, bleibt die Frage offen, warum die Lehrerin sich ausgerechnet in der Schule das Leben nahm. Die einzige Interpretation hierfür wird von Alice angeboten: Sie versteht den Suizid der Lehrerin im Klassenzimmer als einen Akt der Gewalt. Mit diesem Deutungsangebot zeigt sie, inwiefern es die Kinder besser als die Erwachsenen verstehen, einem Tabu zu trotzen: Sie sprechen den Suizid offen an.
Trost ohne Happy End
Bei aller Tragik und Schwere seiner Themen ist
Monsieur Lazhar aber auch eine versöhnliche Geschichte darüber, wie Menschen aufeinander zugehen, Vertrauen schöpfen und Verständnis aufbauen. Die nicht zuletzt auch humorvolle Seite des Films wird von der sympathischen Figur des Monsieur Lazhar und von den Beobachtungen der alltäglichen Kommunikation der Schüler/innen untereinander und mit ihrem Lehrer getragen. Gemeinsam zeigen die Kinder und Bachir Lazhar, wie sich ein Umgang mit einer schwierigen Situation finden lässt. Wenngleich ohne ein klassisches Happy End, findet der Film schließlich ein tröstendes Ende mit einem parabelhaften Gleichnis über den Abschied.
Autor/in: Elena Solte ist Romanistin mit Schwerpunkt Film und arbeitet als freie Autorin und Medienpädagogin, 28.03.2012
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