Gelbe Wände, blaue Türen, rote Möbel – schon nach wenigen Minuten des Films befindet man sich inmitten des einmaligen, von Primärfarben dominierten, kunterbunten Reichs von Pedro Almodóvar in einer sehr künstlichen, zugleich emotional immer nahe gehenden, aufwühlenden Welt der Leidenschaften. Auch in seinem neuem Film beherrscht der Spanier das Spiel mit den Illusionen perfekt. Der Film beginnt
wie ein Thriller von Hitchcock, voller Suspense
und Rätselhaftigkeit,
und wird dann schnell zu einem Melodram um Sex, Katholizismus, Rollenspiel
und Obsession. Schon der Vorspann ist eine offene Anspielung auf
Vertigo, jenem für viele anspruchsvollsten Hitchcock-Film, in dem es ähnlich
wie in Almodovars Film um eine merkwürdige, trügerische Doppelgängerin, um Liebestaumel
und Liebesverrat, Obsession
und Befreiung von einem schrecklichen Trauma geht.
Handlungsgeflecht auf drei Zeitebenen
Der Film erzählt seine exakt gebaute, stellenweise hochkomplizierte Geschichte auf drei Zeitebenen: Anfang der 1980er Jahre trifft Enrique, ein schwuler Filmregisseur, einen Freund aus Kindertagen
wieder. Ignacio, der Freund, hat ein Drehbuch geschrieben, das für Enrique die alten Erinnerungen lebendig machen soll. Beide besuchten in den repressiven 1960er Jahren, der Ära der spanischen Franco-Diktatur, ein katholisches Knabeninternat. Voneinander fasziniert
und auch körperlich angezogen, entdecken sie dort die Liebe
und die Lust am Kino. Gemeinsam leiden sie unter den Nachstellungen eines Priesters, der Ingnacio sexuell missbraucht
und Enrique als seinen möglichen Rivalen von der Schule verweisen lässt. In den 1970ern trifft Ignacio, inzwischen drogensüchtig
und mit anoperierten Frauenbrüsten
und Lockenperücke äußerlich zur Frau geworden, den Priester
wieder
und erpresst ihn. Die traumatisierende Geschichte wird in Rückblenden erzählt, während Enrique das Drehbuch seines einstigen Freundes liest
und vor seinem geistigen Auge bereits der Film entsteht, den er daraus machen will. Sein Freund Ignacio, das stellt sich später heraus, ist aber gar nicht Ignacio, sondern heißt Angel
und ist dessen Bruder.
Täter-Opfer-Rollen
Trotz seiner komplizierten Struktur – immer
wieder wird zwischen den drei Zeitebenen hin
und her gesprungen – entfaltet der Film einen eigenartigen Sog. Er ist das Gegenteil eines Thesenfilms, denn jede seiner Aussagen wirkt doppelbödig
und gebrochen. Einerseits zeigt der Film die gesellschaftlichen Verhältnisse der 1960er-Jahre abseits des liberal gesinnten großstädtischen Bürgertums: Unterdrückung
und Schweigen über Sexualität dominieren, Knabenliebe ist ohnehin mit einem strikten Tabu belegt. Ignacio
und Enrique können
und dürfen nicht offen miteinander sprechen, vieles zwischen ihnen geschieht schweigend, in stillem Einverständnis. Andererseits atmet Almodóvars listige Inszenierung auch den Geist der offenen Faszination des Priesters für den femininen, schönen Ignacio
und der Regisseur zeigt das in schwelgerischen Bildern des Jungen, etwa wenn dieser mit engelsgleicher Stimme ausgerechnet "Moon River" singt, seit
Frühstück bei Tiffanys einer jener großen Liebes-Evergreens des Kinos. In dieser ambivalenten Darstellung des Missbrauchs von Pubertierenden wird Ingacio zudem nicht allzu schlicht als jemand gezeigt, der sich wehrt, sondern als einer, der vor allem unsicher ist, über sich selbst
und den anderen, der sich einsam fühlt
und der für seinen offensichtlich schlechten Erzieher neben der allgegenwärtigen Angst sogar etwas Sympathie
und Achtung hegt, was später in Mitleid umschlägt. Es dauert nicht lange, da kehren sich die Täter-Opfer-Rollen zumindest teilweise um, etwa als Ignacio spürt, dass er auch Macht über den Priester besitzt.
Machtverhältnisse
So gesehen ist
La mala educación nicht zuletzt ein Melodram über Verführung
und Machtverhältnisse,
und darüber,
wie beides einander bedingt. Zugleich ist es ein Film über die Erinnerung: In der Figur des schwulen Filmregisseurs mit Schaffensproblemen inmitten der bunten Welt der 1980er – in Spanien war das die Epoche der "Movida", eines nachgeholten Aufbruchs
und der Entdeckung westlicher Freiheiten nach den repressiven Jahrzehnten unter Franco – steckt nachweislich auch ein Selbstporträt des jungen Almodóvar. Die scharfe Kirchenkritik, die der Regisseur, selbst ehemaliger Klosterschüler, noch Jahrzehnte später übt, muss man auch vor dem Hintergrund des in Spanien traditionsreichen Bündnisses von katholischer Kirche
und Rechtsextremismus sehen, gegen das sich Almodóvar immer
wieder gewandt hat.
Die Kunst als Spiegel des Lebens
La mala educación ist der erste Film Almodóvars über seine Kindheit
und Jugend, wobei sich Kunst
und Leben gegenseitig spiegeln. Stilistisch knüpft er an Bilder
und Motive seiner späteren Werke an. Man findet hier alles, wofür der Regisseur berühmt ist: eine Liebe zur schönen Oberfläche, zum Rollen-
und Verwirrspiel in sexuellen Dingen, zum Melodrama. Im Gegensatz zu seinen anderen Filmen, die das Thema oft in Nebenhandlungen
und -figuren aufgreifen, ist dies ein expliziter schwuler Männerfilm: Frauen kommen nur am Rande vor
und heterosexuelle Liebe spielt keine Rolle. Alle Figuren sind schwul
und das ist, jedenfalls unter den jüngeren, so selbstverständlich, dass es kaum der Erwähnung bedarf. Homosexualität ist in diesem Werk kein Nischenthema mehr. Allgemein lässt sich der Film freilich auch als nicht an bestimmte Vorlieben gebundene, sehr stilbewusste Abhandlung über die Natur von Liebe
und Macht verstehen.
Autor/in: Rüdiger Suchsland, 01.10.2004