Der Kinobesuch ist derzeit Teil der Selbstinszenierung bestimmter Jugendkulturen (eine einheitliche gibt es nicht). Es geht dabei weniger um die Auseinandersetzung mit Stoffen, um Interesse für Inhalte, mehr um die Teilnahme an einem Medien-Hype , u. a. zur Abgrenzung gegenüber anderen Jugendströmungen, für die Kino nicht zum Lebensgefühl und zum Kristallisationsmoment für Cliquenbildung gehört. Ein Film, der nicht parallel zum Bundesstart in Fernsehen, Rundfunk, Illustrierten und im Internet präsent ist, hat daher kaum keine Chance, von einer nennenswerten Anzahl von Jugend-Ethnien angenommen zu werden. Diese Ethnien werden vor allem von Gymnasiasten, Realschülern und Studenten gespeist. Selbstverständlich spielen auch andere Kriterien bei der Entscheidung zum Kinobesuch eine Rolle: die Vorliebe für bestimmte Genres, Stars oder Regisseure. Vor allem letztere werden allerdings nicht für Vielfalt bewundert, sondern entwickeln Magnetismus lediglich auf der Grundlage ihrer populärsten Streifen. So konnte Steven Spielbergs jüngster Film <kursiv_import>A.I.</kursiv_import> kein Erfolg beim Publikum werden, weil er keine Action-Erwartungen erfüllte. "Actionfilm" und "Comedy" sind die bei der Zielgruppe "angesagten" Genres, die zahlreiche bisher bestehende Gattungen als Subgenres in sich aufgenommen haben, darunter Science Fiction und Fantasy.

Selbstbilder ohne Geschichtsbewusstsein

Gladiator (Regie: Ridley Scott)

Während Kino also durchaus zu jugendlicher Identitätsbildung beiträgt, scheint die Frage der historischen Herkunft derzeit für diesen Prozess kaum bedeutend zu sein. Geschichtsbewusstsein gehört nicht zum Set, aus dem man sein Selbstbild zusammensetzt. Alles Vergangene ist weiter entfernt als während der letzten Generationsbrüche. Der Film vom letzten Jahr ist ein hoffnungslos veralteter Film (deswegen gibt es kaum noch Wiederaufführungen: <kursiv_import>Zum Filmarchiv: "Apocalypse Now Redux"</kursiv_import> war grandios, aber ein Misserfolg). Filme mit historischen Themen sind nur für eine kleine Klientel meist erwachsener Zuschauer von einigem Reiz. Allein <kursiv_import>Braveheart</kursiv_import> und <kursiv_import>Gladiator</kursiv_import> waren in den letzten Jahren Historienfilme, die beim jungen Publikum ankamen – allerdings hauptsächlich wegen ihrer Actionqualitäten und der computeranimierten Special effects. Auch diese sind übrigens für die Akzeptanz eines Films bei Jugendlichen von Bedeutung.

Unlustgefühle gegenüber der NS-Geschichte

Oi! Warning (Regie: Gebr. Reding)

Ist also Geschichte allein schon ein Unthema für den Kino-Diskurs Jugendlicher, so ist es die auch bei der Elterngeneration mit Unlustgefühlen besetzte, mit Tabus umstellte und mit moralischen Wertungen versehene Geschichte des Nationalsozialismus erst recht. Gerade das unübersehbare Hineinragen dieser Geschichtsepoche in die Erfahrungswelt der Jugendlichen – politische Diskussion vor allem um die Präsenz von Ausländern in Deutschland, Woche der Brüderlichkeit, Positionierung Deutschlands gegenüber dem Staat Israel, Auseinandersetzung mit rechtsradikal motivierter Gewalt im unmittelbaren Umfeld – macht sie als Thema für Freizeiterleben untauglich. Höchstens im Spiel mit Verletzungen jener Tabus, die im Geschichtsdiskurs angelegt sind, bekommt sie Freizeitwert. Auch die Betrachtung der nationalsozialistischen Herrschaft unter "attraktiven" Aspekten wie Gewalt, Sadismus, Horror hält jugendliches Interesse an der Epoche wach. Sobald allerdings eine moralisch wertende Beurteilung gefordert wird, reagieren viele Jugendliche mit Abwehr. Da das Durchspielen vieler Rollen, das Ausprobieren zahlreicher Masken gegenwärtig zur Identitätsfindung gehört, sind manche Jugendliche sogar bereit, auch einmal die Maske eines Nazis aufzusetzen – meist nur vorübergehend, aber durchaus mit Lustgefühlen verbunden, da in diesem Bereich letzte gesellschaftliche Tabus bestehen.

Pädagogische Arbeit

Das Leben ist schön (Regie: Roberto Benigni)

Aus solchen Gründen konnten Filme, die sich Nationalsozialismus und Faschismus jüngst mit neuen, zunächst komödiantischen Ansätzen genähert haben (Roberto Benignis <kursiv_import>Zum Filmarchiv: "Das Leben ist schön"</kursiv_import> oder Radu Mihaileanus <kursiv_import></kursiv_import>) beim jugendlichen Publikum kaum Aufmerksamkeit erregen. Dabei hatte Benigni dank seiner Starqualitäten (denen er auch eine höhere Medienpräsenz verdankte) größere Chancen als der unbekannte Mihaileanu. Dennoch sind beide Filme gut für die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen geeignet: sie wenden sich an die Emotionen. Sie erzeugen zu Anfang Gefühle von Fremdheit, die Aufmerksamkeit erhöhen, sie öffnen sich schließlich in Utopien, die zu Diskussionen Anstoß geben. Wir müssen davon ausgehen, dass Jugendliche nahezu ausschließlich durch pädagogische Arbeit, letztlich also genötigt, für Filme mit Geschichten über den Nationalismus zu interessieren und über diese Filme zu einer Auseinandersetzung mit Geschichte zu verführen sind. Dabei ist wichtig, dass sie eigene Gefühle in die Filme einbringen können, bzw. dass die Filme ihre Gefühle stimulieren. Durch Weinen und Wut, durch Lachen und Erschrecken kann rationaler Diskurs angeregt werden. Umgekehrt funktioniert es nicht – und hat es bei Jugendlichen vielleicht nie funktioniert.

Das Triviale als möglicher Einstieg

Schindlers Liste (Regie: Steven Spielberg)

Wie sollte es auch? Schließlich wurde die große Auseinandersetzung über die Massenvernichtung der europäischen Juden in deutschen Familien 1979 durch eine "triviale" Fernsehserie ausgelöst. <kursiv_import>Holocaust</kursiv_import> bediente sich aller Klischees der tradierten Fernsehfamilien und brachte gerade durch Sentiment die Diskussion voran. Nicht anders ging Steven Spielberg 1993 in <kursiv_import>Schindlers Liste</kursiv_import> vor. Was ästhetisch also fragwürdig scheinen mag, spielt geschichtspädagogisch keinerlei negative Rolle. Außerdem sind Jugendliche durch den Konsum von Hollywoodfilmen an triviale Erzählmuster nicht nur gewöhnt sondern geradezu gebunden. Während es für die Medienpädagogik unerlässlich ist, auf solche Topoi aufmerksam zu machen, sind sie für die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus hilfreich. Wenn es nicht gelingt, Jugendliche durch Filme für Menschen und Schicksale aus der Epoche zu sensibilisieren, zu faszinieren (auch über die Faszination durch das Böse wird man reden müssen) und damit zu interessieren, werden sie sich weiter vor ihr verschließen. Filme können Einstiege sein. Nur wenn sie zunächst ergreifen, können sie Straßen und Wege zum Begreifen und zu Haltungen eröffnen.