Man muss diesen Jungen tanzen sehen! Jamie Bell in der Rolle von Billy Elliot, der in diesem exzellenten britischen Film sein Debüt gibt, hat eine fantastische Ausstrahlung! Worte bleiben dürftig, will man die konzentrierte Energie, diese unbändige Lust an der Bewegung und den zornigen Impuls beschreiben, mit dem er die Zuschauer entzückt – dieser Junge hat wirklich zu seinem ureigensten Ausdrucksmittel gefunden! Seit seinem sechsten Jahr  nimmt er Tanzunterricht. Wie Billy Elliot, den er so überzeugend verkörpert, musste Jamie Bell erst lernen, mit dem Spott seiner Schulkameraden umzugehen und sich gegen seine Familie, gegen seine Umgebung, und ein bisschen auch gegen sich selbst durchsetzen.

Rollenbilder im Kopf

Im Film lebt Billy in einer Gegend im Nordosten Englands, die höchstens Fußballstars hervorgebracht hat. "B-a-l-l-e-t-t?", fragt ihn sein Vater in einer Mischung aus völligem Unverständnis und echtem Angewidertsein, "B-a-l-l-e-t-t?" Was daran schlecht sein soll, diese Frage kann er seinem Sohn nicht beantworten, aber Billy Elliot ahnt die versteckte Unterstellung: "Nicht alle Tänzer sind schwul, Papa." Damit ist ausgesprochen, was alle Jugendlichen irgendwann mal beschäftigt: die Frage nach der sexuellen Orientierung. Darf ein ‘normaler’ Junge solche Lust am Tanzen haben? Warum will er nicht lieber boxen, wie (fast) alle Jungen in seinem Kaff? Weil er offensichtlich besser tanzen als boxen kann. das klingt einfach, ist es aber nicht.

Alleingelassen

Schließlich spielt der Film nicht in einer behüteten Mittelstandssiedlung, in der Mütter Fahrgemeinschaften bilden, um ihre Kinder wöchentlich quer durch die Stadt von der Sportschule zum Malkurs, zum Judo, ins Ballett oder in die Reitschule zu chauffieren. Billys Mutter, die seine musische Begabung erkannt hat, kann nichts mehr für ihn tun, sie ist tot. Der Vater und der ältere Bruder Tony übersehen den Elfjährigen, sind viel zu sehr mit eigenen Problemen beschäftigt. Man kann es ihnen nicht verübeln, denn sie haben selbst ganz andere existenzielle Sorgen.

Sozialpolitischer Hintergrund

Der Film spielt 1984 im Nordosten von Großbritannien zur Zeit der großen Bergarbeiterstreiks. Sie richteten sich gegen Margaret Thatcher und ihre Regierung, die mit eiserner Faust die Schließung der unrentablen Hütten beschlossen hatten. Auch 15 Jahre später wird dieses Trauma im sozial engagierten britischen Kino immer wieder neu aufgegriffen. Ein Bergarbeiter hat nichts anderes gelernt als in den Schacht zu fahren, deshalb stehen Tony, sein Vater und alle Männer des Dorfes mit dem Rücken zur Wand und kämpfen um ihre Zukunft und die Sicherheit ihrer Familien.

Soziale Kontrolle

Die 40 Pence, die Billys Vater wöchentlich für den Boxunterricht seines Jüngsten zusammenkratzt und die dieser heimlich in den Ballettunterricht investiert, sind vom Munde abgespart. Für Kohle (!) ist im Winter kein Geld da, so muss zu Weihnachten das Klavier dran glauben. In dieser Situation hat kein Mensch die Muße, auf die Entwicklung eines Kindes zu achten. So bitter das einerseits ist, es eröffnet Billy andererseits die Möglichkeit, durch die Maschen des sozialen Kontrollnetzes zu schlüpfen und seine eigenen Wege zu gehen.

Entscheidungen

Diese Wege führen ihn zu Mrs. Wilkinson, die mit ruppigem Charme, ohne Glanz und Glamour und vor allem ohne Sentimentalität eine kleine Ballettschule leitet. Sie entdeckt Billys Talent und zwingt ihn, sich zu entscheiden. Er soll sich nicht hinter der Ablehnung seines Vaters und seiner Bruders verstecken, sondern etwas Neues wagen und hart dafür arbeiten. Das geht nicht ohne Kämpfe und Rückschläge. Da ist zum einen die Härte des Trainings selbst, die Übungen, die ihm nicht gelingen wollen, die der Film in gut geschnitten Szenen amüsant zeigt, ohne zu denunzieren. Manchmal kommen Billy auch Zweifel, ob der Unterricht wirklich ihm oder mehr der Selbstbestätigung seiner Lehrerin dient.

Widersprüchliche Gefühle

Schwer tut sich Billy auch mit dem Gefühl der Entfremdung, als ihm klar wird, dass der Tanz ihn unweigerlich aus seinem Milieu, aus seinem Dorf herausführt. Ist die Entscheidung für sein Berufsziel gleichbedeutend mit dem Verrat an seiner Familie, an seiner Klasse? Und schließlich ist da noch der mögliche Verrat an seiner männlichen Identität. Ist er vielleicht homosexuell oder denken das allenfalls die anderen, wenn sie von seiner Leidenschaft für das Tanzen erfahren? Der Film lässt diese Fragen offen und irgendwann sind sie für Billy nicht mehr wichtig. Wichtig ist, dass er beim Abschied den Mut findet, seinen Freund, dessen homosexuelle Neigungen ihm bekannt sind, zu küssen, obwohl Vater und Bruder ihm dabei zusehen.

Lernprozesse

Billy Elliot ist mit dem Training und den Vorbereitungen für die Aufnahme in die Royal Ballet School sehr stark geworden. Er kann den Widerstand seines Vaters brechen und ihn zum Verbündeten gewinnen. Er vermittelt ihm, was er will und was er am besten kann: sich mit Bewegung und seinem Körper auszudrücken. Auch das zeigt der Film als Lernprozess: Zunächst ist es nur ein Laufen, ein Rennen, ein Treten gegen die Wand und gegen Mülleimer, wie es alle zornige Jungen tun. Dann wird daraus ein Rhythmus, ein Tänzeln, ein Steppen, ein Hoch-in-die-Luft- und ein Hin-und-Her-Springen, das Mrs. Wilkinson nur noch in die richtige Form bringen muss. Am Ende haben Billys Vater und sein Bruder begriffen, dass sie ihr Leben nicht über seines stülpen können. Billy Elliot wird kein Bergmann werden, er wird nach London gehen und seine Familie wird sehr stolz auf ihn sein!