Germain ist um die 50 und Analphabet. Seine Mitmenschen halten den stämmigen Mann, der noch mit seiner egozentrischen und tyrannischen Mutter zusammenlebt, für einen Trottel. Sein bescheidenes Auskommen verdient er sich als Hilfsarbeiter. Eines Tages lernt der Außenseiter Marguerite kennen, eine zierliche, kultivierte Dame in hohem Alter. Sie kommen ins Gespräch und freunden sich an. Bei ihren regelmäßigen Treffen liest sie ihm aus Romanen von Albert Camus vor. Fortan eignet sich Germain einen Wortschatz an, über den seine Bekannten nur noch staunen. Als Marguerites Augen immer schwächer werden, beginnt ihr neuer Freund lesen zu lernen.
Das Labyrinth der Wörter erzählt nach dem gleichnamigen französischen Roman von Marie-Sabine Roger von der Kraft und Poesie der Sprache. Das Wesentliche spielt sich dabei in den Köpfen der Figuren ab, die Jean Becker oft mit
Großaufnahmen ins Bild rückt. Der Franzose inszeniert sein Bildungsdrama unprätentiös mit klugen Dialogen, präzisen Gesten, subtilem Humor, dezent eingesetzter
Musik und ohne einen Anflug von Pathos. Zwar wirkt es etwas unrealistisch, dass ein Analphabet in kurzer Zeit zu einem respektablen Vorleser avanciert, aber die Begeisterung für das Neuland Literatur nimmt man ihm allemal ab. Es ist die Freundschaft zwischen dem ungleichen Paar, die die Bereitschaft zum Lernen beflügelt. Getragen wird das
Kammerspiel von den Darstellern Gérard Dépardieu und Gisèle Casadesus, die ihre Figuren mit aufrichtiger Wärme verkörpern.
Im Unterricht können Schüler/innen über die im Film aufgestellte These diskutieren, dass Bücher nicht nur den Gebildeten und Privilegierten vorbehalten sind, sondern auch das Leben von Menschen mit geringem Bildungshintergrund entscheidend bereichern. Sie können erörtern, auf welche Weise es Marguerite gelingt, Germains Leselust zu wecken und inwiefern die ausgewählten Romanauszüge dazu beitragen. Ferner können sie ihr eigenes Leserverhalten reflektieren und begründen. Im Fremdsprachenunterricht kann der Film dazu anregen, sich tiefgehender mit dem literarischen Werk des französischen Existenzialisten Albert Camus zu beschäftigen, insbesondere mit seinem Roman
Die Pest aus dem Jahr 1947.
Autor/in: Kirsten Liese, 04.01.2011
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