Verlorener Held im wirklichen Leben

Es ist ein festes Ritual: Jeden Morgen, von 5:45 bis 6:33 Uhr, taucht Ben ein in die Welt von Archlord, einem Fantasy-Rollenspiel, bei dem sich gleichzeitig Tausende von Spielern/innen per Internet einloggen, um gemeinsam Abenteuer zu erleben. Bei dem "Massen-Mehrspieler-Online-Rollenspiel"(MMORG) wird aus dem Oberschüler Ben der stattliche und schwer bewaffnete Ritter Ben X, der sich jedem Gefecht stellt.

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Seit einem Jahr hat er in der virtuellen Welt eine Gefährtin, die schöne Scarlite, die ihn bewundert und die er nie enttäuscht. Im mythischen Reich von Archlord ist Ben stark und angesehen. Davon kann der junge Mann im realen Leben nur träumen. Wenn er den Computer ausschaltet, beginnt sein eigentlicher Kampf: Dann muss er sich wappnen gegen eine Welt, deren Regeln er nicht versteht; gegen Menschen, die von ihm erwarten, dass er sich "normal" verhält. Etwa, dass er lächelt oder sein Gegenüber beim Sprechen anschaut – Ansprüche, die ihn überfordern. Denn Ben leidet am Asperger-Syndrom, einer abgeschwächten Form von Autismus. Betroffene fallen auf den ersten Blick kaum auf. Sie sind in der Regel durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent und sprachlich kompetent, können aber die Gefühle und Gedanken anderer Menschen nur schwer nachvollziehen; Freundschaften schließen sie selten.

Erniedrigung und Mobbing

Jeden Tag schickt Bens allein erziehende Mutter ihren Sohn mit denselben ermutigenden Worten auf den Weg zur Technischen Oberschule. Jeden Tag bemüht sich Ben, nicht aufzufallen. "Alles eine Sache von Planung und Strategie", sagt er sich. Mithilfe einer kleinen Digital-Kamera beobachtet er seine Umwelt, versucht das Verhalten der "Normalen" zu kopieren – und hat doch keine Chance. Schon gar nicht gegen seine Klassenkameraden Bogaert und Desmet, die es auf ihn, das "Marsmännchen", abgesehen haben und ihn ohne Unterlass schikanieren.

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Bens Peiniger sind eindimensional gezeichnet: böse und skrupellos. Dennoch erscheinen sie realistisch, wird der Machtrausch deutlich, den sie beim Mobben erleben. Eines Tages eskaliert die Situation. Nach dem Religionsunterricht erniedrigen die beiden Ben auf brutale Weise vor der gesamten Klasse. Schutzlos steht er vor der johlenden Meute, die ihn mit Handy-Kameras filmt. Schließlich entern seine Mitschüler den einzigen Ort, an dem er sich sicher fühlt: das Internet. Dort veröffentlichen sie die demütigenden Handy-Filme. Hilflos und psychisch am Boden sieht Ben nur noch einen Ausweg im Selbstmord. "2 late 2 heal" – allein seiner virtuellen Freundin Scarlite vertraut er sich an. Und ganz unerwartet nimmt das reale Mädchen aus dem Onlinespiel Kontakt mit ihm auf und bietet ihre Hilfe an. Für Ben eröffnet sich die Chance auf einen Neubeginn.

Diagnosen aber keine Hilfe

Wie geht die Gesellschaft mit Anderssein um? Wie reagiert sie auf Verstöße gegen die Norm? Diese zentralen Fragen thematisiert der belgische Regisseur Nic Balthazar in seinem Debütfilm, der seine Deutschlandpremiere auf der diesjährigen Berlinale in der Sektion Generation 14plus erlebt. "Ben X" basiert auf Balthazars Jugendroman Niets Was Alles Wat Hij Zei (2002) – zu Deutsch: "Nichts war alles, was er sagte", den er ausgehend von einer Zeitungsnotiz über den Selbstmord eines autistischen Jungen schrieb.

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Die Geschichte von Ben, der sich nicht in die Gesellschaft einfügen kann, ist eine lebenslange Leidensgeschichte, die der Film durch einige Zum Inhalt: Rückblende/VorausblendeRückblenden illustriert. Schon als Kind wird Ben permanent ärztlich und psychologisch untersucht, schließlich wollen die besorgten Eltern wissen, was mit ihrem Sohn nicht stimmt. "Sie denken sich immer wieder neue Theorien über meine Persönlichkeit aus. Dabei kennen sie mich gar nicht", stellt Ben fest. Für die Eltern ist es eine Erleichterung, als es für sein Verhalten endlich eine medizinische Erklärung gibt: das Asperger-Syndrom. Doch was bringt es Ben? Statt mit Verständnis reagiert die Umwelt mit Ausgrenzung, von Hänseleien im Kindergarten bis zur systematischen Schikane in der Schule. Mit der Ausweitung des Mobbings auf den Cyberspace sieht sich Ben hilflos einer öffentlichen Demütigung ausgesetzt. In reportageartigen Interviewsequenzen kommen Bens Eltern, Psychologen, Lehrkräfte oder Mitschüler/innen zu Wort. Ihre verschiedenen Sichtweisen auf das Geschehen runden das Gesamtbild der Ereignisse ab und zeigen die Vielschichtigkeit der Problematik auf.

Selbstbehauptung statt Selbstaufgabe

Zugleich gelingt es Balthazar eindrucksvoll, die Perspektive des autistischen Jungen zu vermitteln. Bens Blick auf die Welt hinterfragt, was allgemein als "normal" gilt. In seinen Augen tauscht ein sich küssendes Paar nur Speichel aus. Was soll daran schön sein? In der Welt von Archlord kennt sich Ben hingegen aus, kann er sein Ich hinter einem Avatar verbergen, erlebt er Anerkennung. Die virtuelle Welt gibt Ben aber auch Orientierungshilfen im realen Leben. Filmsprachlich wird dies deutlich, indem etwa das "Charakterdarstellungsmenü" aus dem Computerspiel eingeblendet wird, wenn Ben sich morgens die Haare frisiert.

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Zunehmend verschwimmen für ihn jedoch die Grenzen zwischen virtueller Realität und Wirklichkeit, nimmt er seine Peiniger gar als Figuren aus dem Fantasyspiel wahr. Klare, aber dunkle Zum Inhalt: FarbgestaltungFarben, manchmal an der Grenze zur Künstlichkeit, betonen die Analogie beider Welten. Mit rasanten Zum Inhalt: MontagesequenzSchnittfolgen und einer Collage aus Realfilm- und Onlinespielszenen greift "Ben X" eine Reihe schwergewichtiger Themen auf: Mobbing, Selbstmord, Ignoranz sowie Flucht in künstliche Welten und Entfremdung. Die zeitgenössische Problematik gewinnt zudem eine universelle Dimension durch symbolhafte Analogien zur christlichen Passionsgeschichte: ein Kreuz, das sich Ben schmiedet, eine "Erlöserszene" in der Schulkappelle. Dennoch wirkt der Film nicht überfrachtet, bleibt in seinem emotionalen Kern glaubhaft und nachvollziehbar: Ausgrenzung und Mobbing sind keine Einzelphänomene, sie können uns alle treffen. Dass Ben schließlich einen ungewöhnlichen Weg aus seinem persönlichen Teufelskreis findet, macht Mut: Statt Selbstaufgabe propagiert "Ben X" Selbstbehauptung.

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