Kategorie: Filmbesprechung
"Am Ende kommen Touristen"
Eigentlich wollte Sven seinen Ersatzdienst in Amsterdam ableisten, nicht in dem polnischen Provinzstädtchen Oswiecim - Auschwitz.
Unterrichtsfächer
Thema
Ein junger Berliner in Auschwitz
Oswiecim war nur zweite Wahl. Eigentlich wollte der Kriegsdienstverweigerer Sven seinen Ersatzdienst in Amsterdam ableisten, in einer flirrenden Jugendmetropole, nicht in der polnischen Provinz. Schon gar nicht war er vorbereitet auf die Konfrontation mit der Vergangenheit, die ihm hier bevorsteht: Oswiecim ist der polnische Name für Auschwitz. In der Jugendbegegnungsstätte, im Schatten des einstigen Konzentrationslagers, soll er seinen Dienst absolvieren, sich um den ehemaligen Häftling Krzeminski kümmern, Schulklassen betreuen – und bei all dem bloß nichts falsch machen. Ein deutscher Zivi in Auschwitz trägt schließlich geschichtliche Verantwortung, das macht ihm sein Vorgesetzter unmissverständlich klar. Sven macht alles falsch. Wehrt sich gegen den Kommandoton von Krzeminski, dem Holocaust-Überlebenden. Äußert Kritik an den seltsamen Auswüchsen des hiesigen Gedenktourismus, missbilligt die allgegenwärtigen Betroffenheitsfloskeln. Engagiert sich zuerst zu wenig, dann zu viel.
Zeittypische Figuren und offene Fragen
Nüchtern im Ton und doch einprägsam schildert Robert Thalheim in seinem zweiten Spielfilm nach dem hoch gelobten (2004) die Schwierigkeiten im heutigen Umgang mit dem Holocaust. Die Jugendperspektive ergibt sich aus seiner eigenen Biografie: Ende der 1990er-Jahre arbeitete Thalheim im Rahmen eines "Anderen Dienstes im Ausland" für den deutschen Verein Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) in Oswiecim. "Am Ende kommen Touristen"
ist allerdings keine Nacherzählung seiner Erlebnisse, sondern eine sensible, originelle und oft auch irritierende Reflexion eines sehr speziellen Ortes und seiner Bewohner/innen. Anhand einer persönlichen Geschichte kreist der Film um solch schwierige Themen wie Vergangenheitsbewälti-
gung, Gedenkstättentourismus und das deutsch-polnische Verhältnis.
Der überforderte Protagonist Sven ist eine durchaus zeittypische Figur. Nolens volens zur Auseinandersetzung mit Geschichte gezwungen, sucht er nach Orientierung und findet Leerstellen und Brüche. Stanislaw Krzeminski, sein Schützling, dient der Jugendbegegnungsstätte von Oswiecim als Zeitzeuge. Doch seine Vorträge über die Schrecken des Konzentrationslagers wirken langatmig und stellen das jugendliche Publikum auf eine harte Probe. Die Jugend von heute, konstatiert Krzeminski irgendwann desillusioniert, könne man ja nur noch mit hochdramatischen Spielfilmen wie "Schindlers Liste"
(Steven Spielberg, 1993) für die Vergangenheit interessieren. Das mag übertrieben sein, benennt jedoch ein wichtiges pädagogisches Problem: Welche Form von "Authentizität" schafft historisches Bewusstsein, schafft die notwendige Empathie, das Mitleid mit den Opfern? Sven bleibt allein, mit vielen – zum Teil provozierenden – Fragen.
Widersprüche und Verantwortung
Die Antwort liegt allemal in der persönlichen Begegnung. Sven, der deutsche "Fritz" von der "Zivilarmee Auschwitz", macht mit den Polen vor Ort nicht nur angenehme Erfahrungen, wird abschätzig behandelt oder ausgelacht. Als sich zwischen ihm und der Museumsführerin Ania eine Liebschaft entwickelt, gestaltet sich auch dieses deutsch-polnische Verhältnis kompliziert. Wie nähert man sich einer schönen jungen Frau, die Menschen aus aller Welt jeden Tag die Gräuel der nationalsozialistischen Verbrechen nahe bringt? Wie fühlt es sich an, in Oswiecim zu leben und der touristischen Auswertung des Holocaust-Gedenkens sein Einkommen zu verdanken? Die Antworten sind überraschend, der moralische Zeigefinger bleibt außen vor. Sven muss manche Fehleinschätzung revidieren, lernt Widersprüche auszuhalten und findet so, nach und nach, zu einem persönlichen Verhältnis zur Geschichte. Am Ende entscheidet er sich selbstverantwortlich dafür, seinen Teil dazu beizutragen, dass die Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät. Dass dies in seinem konkreten Fall bedeutet, die anfänglich so beargwöhnte Erinnerungskultur zu unterstützen, enthält eine tragikomisch-ironische Note, die den ganzen Film auszeichnet.
Einen eigenen Standpunkt entwickeln
Es ist Thalheims offene gestalterische Form, die solche dramaturgischen und auch interpretatorischen Freiräume schafft. Mit der Zum Inhalt: KamerabewegungenHandkamera aufgenommen, ist das seltsam idyllische Oswiecim zunächst nicht viel mehr als eine leere Projektionsfläche. Fast dokumentarisch wirken auch die sparsamen Dialogszenen und das zurückgenommene Spiel der Darsteller/innen, mit denen sie sich langsam füllt. Hier wird den Zuschauenden keine Deutung von Geschichte vorgegeben, sondern sie werden aufgefordert, einen eigenen Standpunkt zu finden. Keine leichte Aufgabe für Jugendliche, doch gerade deren Belange sind es, die der Regisseur mit seinem Film aufgreift. Gefühle von Unsicherheit oder gar Übersättigung im Umgang mit einem bedrückenden Thema werden in bisher ungekannter Form ernst genommen. Dafür verzeiht man dem Film manch inszenatorische Schwäche - er hat optisch eher Fernsehformat. Die Begegnung mit Auschwitz, daraus macht Thalheim keinen Hehl, ist noch immer eine Herausforderung. Doch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit muss die Gegenwart nicht zwangsläufig überlagern. Sie bietet auch neue Chancen. "Am Ende kommen Touristen" , ein so akkurates wie vielschichtiges Bild des modernen Europa, ist vor allem ein Gegenwartsfilm.