Tänzerische Begegnungen
2008 wurde das Tanztheaterstück
Kontakthof von Pina Bausch von 40 Schülern/innen aus verschiedenen Wuppertaler Schulen einstudiert. Die Tänzer/innen, Jugendliche von 14 bis 18 Jahren, waren Laien, die sich auf eine Annonce meldeten. Regisseurin Anne Linsel hat die Probenarbeit von April bis zur Uraufführung im November 2008 filmisch begleitet. In dem Stück, das die weltbekannte Choreographin Pina Bausch 1978 erstmals mit professionellen Tänzern/innen entwickelte, geht es um Kontakt im weitesten Sinne – um die Annäherung an die Umwelt, an das andere Geschlecht, und auch an sich selbst. In den tänzerischen Begegnungen soll eine ganze Skala von Emotionen deutlich werden, wie etwa Angst, Zorn, Aggression, Scham und Zärtlichkeit.
Interaktion zwischen Kunst und Leben
Das Laien-Experiment wurde bereits im Jahre 2000 erfolgreich durchgeführt, damals aber mit alten Menschen. Dass nun pubertierende Teenager im Mittelpunkt stehen, stellt den Film in eine Reihe mit einem Dokumentarfilm wie
Rhythm is it! (Thomas Grube, Enrique Sánchez Lansch, Deutschland 2004) über
Tänzerische Begegnung (Foto: RealFiction Filmverleih)
Berliner Kinder aus unterprivilegierten Milieus, die in Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern zu Igor Strawinskys
Le sacre du printemps tanzten.
Tanzträume interessiert sich allerdings weniger für den sozialen Kontext seiner Protagonisten/innen. Aus allernächster Nähe, im engen Rahmen der Proben, wird hier die Interaktion zwischen Kunst und Leben begreiflich. So erlebt man bei einer Handvoll Tänzerinnen und Tänzern, die in Einzelporträts herausgehoben werden, einen spannenden und zunehmend anrührenden Reifeprozess mit. Filmisch wird dies unter anderem mittels einer gekonnten
Montage der meist mit der
Handkamera gedrehten Szenen erreicht: Durch die Verbindung von Proben und Einzelbeobachtungen, von Bühnenszenen, Ratschlägen der Lehrerinnen, die sich auf das Leben übertragen lassen, und den Mienen der Jugendlichen, die stets ungefiltert ihre Empfindungen durchscheinen lassen, nimmt der
kammerspielartige Dokumentarfilm sein Publikum mit auf eine emotionale Abenteuerreise.
Starke Emotionen
So geht es in dem Stück
Kontakthof gerade nicht um die perfekte Beherrschung von Tanzfiguren, sondern darum, Gefühle mit dem Körper auszudrücken. Diese wiederum müssen die jungen Darsteller/innen in sich selbst finden. Und anstatt etwa soziale Milieus auszuleuchten und damit einen "Nebenschauplatz“ aufzumachen, verlässt Kameramann Rainer Hoffmann den Probensaal nur, um sie in
Nahaufnahmen über sich erzählen zu lassen. Starke Emotionen, schlimme Erfahrungen, kommen allmählich schüchtern zur Sprache. Dann, wenn etwa das Mädchen Joy vom Tod seines Vaters erzählt, ein anderes von der Ermordung des Großvaters im Bosnien-Krieg.
Pubertät als weitere Ebene des Films
Mädchen in Pink (Foto: RealFiction Filmverleih)
"Sei du selbst", lautet das Mantra der Lehrerinnen und ehemaligen Bausch-Tänzerinnen Josephine Ann Endicott und Bénédicte Billiet. Die faszinierende Wechselwirkung zwischen "zu sich selbst finden" und "aus sich herausgehen", um in eine Rolle schlüpfen zu können, ist gerade in der gezeigten Konstellation reizvoll. Denn die Pubertät, diese Zeit fundamentaler Unsicherheit, in der auch in der Realität Rollen ausprobiert werden müssen, verleiht dem Film eine weitere Ebene. Gerade durch ihre Erfahrungen und Ängste eignen sich die Teenager das Bühnenstück an. Wenn etwa die anmutig-staksige Joy, die als "Mädchen in Pink" die Hauptrolle spielt, die Präsentation als verführerische Frau übt, scheinen hinter den Posen ihre reale Kindlichkeit und Verletzlichkeit umso eindrücklicher hervor.
Balance zwischen Nähe und Distanz
Beiläufiger Mehrwert der Proben ist, dass die Hemmungen dieses Alters, in dem - zumindest bei den vorgestellten Tänzern/innen - der körperliche Kontakt zum anderen Geschlecht noch recht zurückhaltend ist, im Laufe der Bühnenarbeit auch im realen Leben abgebaut werden. Der Umgang der Jugendlichen, die sich sowohl äußerlich wie auch in ihren Lebensverhältnissen unterscheiden, wird unbefangener. Einfühlsam halten Kameramann Hoffmann und Regisseurin Linsel
Tanzszene (Foto: RealFiction Filmverleih)
die Balance zwischen größtmöglicher Annäherung und respektvoller Distanz. Der Film gibt keinerlei Interpretationen und Sichtweisen vor, mit Ausnahme des Realtons bei den Proben wird keine zusätzliche
Filmmusik verwandt. Linsel und Hoffmann greifen lediglich die stärksten Momente des Stücks heraus – wie jene, in denen Jungen und Mädchen aufeinander zustürmen, voreinander zurückschrecken und sich in die Enge treiben. Dabei bleibt die Kamera immer diskret und auf Augenhöhe der Darsteller/innen, drängt sich nie auf und blendet ab, wenn Tränen fließen.
Tanzträume ist auch der letzte Film, in dem Pina Bausch vor ihrem Tod 2009 zu sehen ist. Die Prinzipalin kommt gelegentlich zu den Proben und wird jedes Mal – "Pina kommt!" – von Tänzern/innen und Lehrerinnen aufgeregt erwartet. Während Letztere am Ende fast wie Vertraute der Teenager wirken, ist Pina Bausch ein strenger, aber liebevoller Supervisor. Beide erscheinen fast elternhaft. Diese wieder erkennbare, den Zuschauer/innen direkt zugängliche Beziehungsstruktur mit all ihren dazugehörigen Gefühlen ist vielleicht auch dafür verantwortlich, dass der Film unter die Haut geht. Selten wird die persönlichkeitsfördernde Wirkung von Kunst so klar vermittelt wie in diesem unprätentiösen
Dokumentarfilm.
Autor/in: Birgit Roschy, Publizistin und Filmjournalistin, 22.03.2010
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