Kategorie: Filmbesprechung
"Unter Kontrolle"
Volker Sattel filmte in und an Orten des Nuklearbetriebs. In seiner Dokumentation setzt er auf die Aussagekraft seiner Bilder.
Unterrichtsfächer
Thema
Der Wille zur Ordnung
Schautafeln, Schaltpulte, Modelle, Pläne – Kontrollräume, Maschinenhallen, Büros, Labore – sauber aufgeräumte Kernkraftanlagen in idyllischer deutscher Provinz – Dampfwolken vor blauem Himmel und Beton auf grüner Wiese: Es herrscht eine große Ordnung in Volker Sattels Zum Inhalt: DokumentarfilmDokumentarfilm, nicht nur an den Orten, die die Bilder zeigen, sondern auch unter und in den Bildern selbst. "Unter Kontrolle" heißt der Film. Er trägt den Untertitel "Eine Archäologie der Atomkraft". Beides verweist auf diesen Ordnungswillen, meint zum einen die Herangehensweise des Filmemachers an sein Thema – die Bestandsaufnahme -, zum anderen das – um Kontrollierbarkeit bemühte – Wesen der dargestellten Zusammenhänge.
Dokumentation in Cinemascope
Volker Sattel und sein Ko-Drehbuchautor Stefan Stefanescu liefern keine journalistische, auf Pro und Kontra aufgebaute Zum Inhalt: DokumentarfilmDokumentation über die in Deutschland umstrittene Form der Energiegewinnung durch Kernspaltung. "Unter Kontrolle" ist kein Fernseh-Feature, das man sich beim Abendessen ansehen könnte. Auf 35mm-Material und im Format Zum Inhalt: CinemascopeCinemascope gedreht, mit seinen zahlreichen Zum Inhalt: SequenzPlansequenzen, gemächlichen Zum Inhalt: KamerabewegungenKamerafahrten und statischen Zum Inhalt: EinstellungsgrößenTotalen beansprucht "Unter Kontrolle" dezidiert den Status eines Kinofilms: Er will das Leuchten der großen Leinwand und die Konzentration des Publikums im dunklen Raum.
Erkundung der Kernenergie
Eine "Archäologie der Atomkraft" entwirft der Film, indem er wie in einer Botanisiertrommel Orte und Stimmen sammelt und zu Sachverhalten zusammen setzt: Zu sehen sind etwa Innen- und Außenansichten von Kernkraftwerken in Betrieb, von fertigen, aber nie ans Netz gegangenen Reaktoren, die als Schulungszentren oder Ersatzteillager dienen oder von im Rückbau befindlichen Anlagen. Volker Sattel hat sich in Zwischenlagern für radioaktiv verseuchten Müll umgesehen, Besprechungs- und Arbeitsabläufe in den Anlagen beobachtet und die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO), die Jahrestagung Kerntechnik und verschiedene Forschungsinstitute besucht. Dabei geht Sattel durchaus methodisch vor: Sein Film schlägt einen dramaturgischen Bogen von der Arbeit in den Kraftwerken selbst über Sicherungs-, Mess- und Kontrollorgane hin zu Stilllegung und Entsorgung.
Vielsagende Stille
Auf einen aus der Außenperspektive heraus erklärenden oder gar bewertenden Zum Inhalt: VoiceoverOff-Kommentar verzichtet der Filmemacher. Dafür kommen Schulungsleiter und PR-Manager, Ingenieure und Verwalter, Wissenschaftler und Mitarbeiter zu Wort. Der Nuklearbetrieb, das macht "Unter Kontrolle" unmissverständlich klar, wird von Männern beherrscht. Die Tonspur wird zudem nicht von Zum Inhalt: FilmmusikMusik bestimmt, sondern vom Scheppern der Werkzeuge, vom Brummen der Turbinen und vom Summen im Kern. Es hallt und dröhnt und manchmal auch hört man: nichts. Unheimliche Stille herrscht auf menschenleeren Fluren und Gängen, kontrolliert die Räume, in denen Armaturen, Messinstrumente, Ventile, Schlösser, Schleusen und Verriegelungen zu sehen sind: Eine oft assoziativ wirkende Bildmontage von Sachen, Dingen, Gegenständen, deren genaue Bezeichnung und deren Funktion man bei einem Fachmann oder einer Fachfrau erst erfragen müsste.
Kein Erklärstück
Um die Frage "Wie genau funktioniert eigentlich ein Atomkraftwerk?" geht es Sattel auch nicht. Sein Interesse gilt dem Widerspruch zwischen einer hochkomplizierten und gefährlichen Technologie und der Behauptung ihrer Entwickler/innen, Verwalter/innen und Überwacher, eben diese Technologie sei beherrschbar, sei: unter Kontrolle. Sattel macht diesen Widerspruch sichtbar, in dem, was er zeigt, und indem er das, was er zeigt, über die Zum Inhalt: MontageMontage miteinander kommunizieren lässt. Etwa, wenn er nach einem Einblick in die Arbeit der Internationalen Atomenergiebehörde die Aussage eines Wissenschaftlers am Wiener Institut für Risikoforschung folgen lässt: die Zusammenarbeit der Kraftwerksbetreiber mit der IAEA sei keineswegs verpflichtend, sondern freiwillig. Oder wenn nach der Beobachtung eines Sicherheitstrainings ein Verwalter sagt, dass im Ernstfall die Entscheidung dem System überlassen sei, da der Mensch zu viele Fehler mache.
Ästhetisierung einer Bedrohung
Es liegt eine gewisse Perfidie darin, dass Sattel dabei beiläufig auch den Begriff des schönen Bildes ad absurdum führt, der so oft als Ersatz einer fundierten Kritik an dem, was zu sehen ist, herhalten muss. Als wäre die wohl proportionierte, sorgfältig Zum Inhalt: Kadrage/Cadragekadrierte, liebevoll komponierte Einstellung ein Wert an sich. Als käme es nicht darauf an, was da mit kunstvollen Mitteln die Aura des Erhabenen verliehen bekommt. Das Unbehagen, das einen angesichts der unzähligen schönen Bilder beschleicht, aus denen "Unter Kontrolle" besteht, ist deswegen so profund, weil die Ästhetisierung hier potenziell lebensbedrohenden industriellen Anlagen zuteil wird.
Neutraler Standpunkt?
Und doch nimmt der Filmemacher scheinbar einen neutralen Standpunkt ein, berichtet er nüchtern vom Status Quo der Atomenergiegewinnung in Deutschland – wohlgemerkt: vor der Katastrophe von Fukushima im März diesen Jahres – und überlässt es dem Betrachtenden, sich eine Meinung zu bilden. Leicht ist das nicht, weil oft unklar ist, was eigentlich genau zu sehen ist, und weil man nicht erfährt, wohin diese Sicherheitsschleuse führt, wozu dieses Messgerät dient oder warum da ein Schutzanzug aufgeblasen wird. Auch wenn es im Einzelnen nicht erklärt wird, so wird in seiner Gesamtheit all dieser Sicherheitsvorkehrungen doch deutlich, dass es sich bei der Kernspaltung um etwas handelt, das nur mit enormem Aufwand und unter großen Mühen unter Kontrolle gehalten werden kann.
Nachdenken erwünscht
"Unter Kontrolle" , so trocken der Film einem zunächst vorkommen mag, ist auch deshalb ein hoch spannender Film, weil er seinem Publikum das Denken nicht abnimmt. Bis zum Schluss nicht, wenn in den im Simulatorzentrum der Kraftwerksschule Essen nachgebauten Kontrollräumen sämtliche Alarmleuchten zu blinken beginnen und die Sirenen losheulen. Und weit und breit kein einziger Mensch. Es folgt der Abspann: schwarz, in dem schließlich ein grün-gelblicher Schimmer zu pulsieren beginnt; das Filmmaterial wurde mit Gamma-Strahlen belichtet.