Eine knappe Zeitungsmeldung steht am Anfang: Zwei rumänische Männer werden 1992 auf einem Getreidefeld in Mecklenburg-Vorpommern nahe der deutsch-polnischen Grenzen von deutschen Jägern erschossen. Man habe die Rumänen in der Dämmerung für Wildschweine gehalten, so die Erklärung der Täter, die beide nach kurzen Ermittlungen freigesprochen werden. Fast 20 Jahre danach rekonstruiert der Filmemacher Philip Scheffner in seinem
Dokumentarfilm Revision akribisch den Fall, kontaktiert Familien und Bekannte der Opfer und stellt fest, dass sich nie jemand die Mühe gemacht hat, diese über das Gerichtsverfahren zu informieren, geschweige denn, sie als Zeugen zu vernehmen. Doch Scheffner untersucht nicht nur ein vergessenes Verbrechen an zwei Familienvätern, sondern zeigt auch auf, dass Ausländerhass und Rassismus kein Minderheitenthema sind.
Der Ton des Films ist betont nüchtern, im besten Sinn des Wortes investigativ. Der Regisseur weiß, dass er mit seinem Film nicht "nur" dokumentiert, sondern auch die Ereignisse beeinflusst und den weiteren Gang der Dinge prägt. Die Dokumentation eröffnet den Beteiligten erstmals die Möglichkeit, nicht nur Zeugen/innen zu sein, sondern Akteure/innen. Nicht alle machen davon Gebrauch – die Täter bleiben hinter ihren Anwälten unsichtbar. Aber die Familien der Opfer bekommen endlich ein Gesicht, erzählen ihre Version der Geschichte. Scheffner setzt sie mit einer ebenso ungewöhnlichen wie überzeugenden Methode ins Bild: Sie hören ihre bereits gemachten Aussagen vor laufender Kamera noch einmal an, können so ihre mediale Wirkung reflektieren und sich gegebenenfalls korrigieren. Dieses Verfahren gibt ihnen ein Stück weit die Souveränität des Handelns zurück und eröffnet ganz nebenbei auch dem Publikum ungewohnte Einsichten in die Konventionen des dokumentarischen Films.
Revision wirft einen Blick auf ein schwieriges Kapitel deutscher Geschichte. 1992 war die Euphorie des Mauerfalls verflogen und die Probleme der Wiedervereinigung traten zu Tage. Die wachsende Unsicherheit fand unter anderem ein Ventil in wachsender Ausländerfeindlichkeit, die durch politische Diskussionen um das Grundrecht auf Asyl noch verstärkt wurde. Im August 1992, nur zwei Monate nach den Schüssen im Getreidefeld, wurde ein vornehmlich von Ausländern/innen bewohnter Wohnblock in Rostock-Lichtenhagen in Brand gesetzt. Die Bilder der applaudierenden Anwohner/innen gingen um die Welt. Eine Recherche der Medienberichte, politischen Diskussionen und Ereignisse dieser Zeit ermöglicht Schülerinnen und Schülern, die im Film geschilderten Vorgänge historisch zu kontextualisieren. Daran anknüpfend kann
Revision auch eine Diskussion darüber anstoßen, ob Rassismus in der Mitte der Gesellschaft entstehen kann oder eher ein gesellschaftliches Randphänomen ist. Dabei zielt Philip Scheffner mit seinem sensiblen Film, dessen herausragende formale Gestaltung weitere spannende Analysemöglichkeiten bietet, nicht zuletzt auch auf die Revision der eigenen, sicher geglaubten Überzeugungen.
Autor/in: Luc-Carolin Ziemann, 11.09.2012
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