Kategorie: Filmbesprechung
"Alle Farben des Lebens"
Ray
Der 16-jährige Ray ist im Körper eines Mädchens geboren worden. Nun wartet er auf den Beginn seiner Hormonbehandlung, während die Familie mit der Entscheidung zu hadern beginnt.
Unterrichtsfächer
Thema
Ray wurde als Mädchen geboren. Die Eltern nannten ihr Kind Ramona, doch schon im Alter von vier Jahren wusste es, dass es im falschen Körper steckt und eigentlich ein Junge ist. Aus Ramona wurde Ray und nun, kurz vor seinem 16. Geburtstag, will Ray endlich mit einer geschlechtsangleichenden Hormontherapie beginnen, damit er an seiner neuen Schule auch äußerlich als Junge leben kann, als ein Junge, der keine Menstruation hat, sich nicht den Busen wegbinden muss, und muskulöse Oberarme hat. Was ihm jetzt noch fehlt, ist die Einwilligung seiner Eltern. Seine alleinerziehende Mutter Maggie unterstützt ihn in seiner Entscheidung, auch wenn sie plötzlich angesichts der bevorstehenden Hormontherapie in Gewissenskonflikte gerät. Sie befürchtet, Ray könne diese unumkehrbare Entscheidung später bereuen. Zum echten Problem wird jedoch Rays biologischer Vater Craig, zu dem Maggie vor langer Zeit den Kontakt abgebrochen hat. Nun muss sie ihn ausfindig machen, da auch seine Einwilligung benötigt wird. Craig ahnt nicht, dass seine Tochter schon lange als Junge lebt, und entsprechend verständnislos reagiert er auf die Bitte, einer Behandlung zuzustimmen.
Eine Familie in Entscheidungsnot
Im Zentrum von "Alle Farben des Lebens" steht eine unkonventionelle Familie. Ray lebt in einem Drei-Generationen-Haus in New York, zusammen mit seiner Mutter Maggie, seiner lesbischen Großmutter Dolly und deren Partnerin Frances. Liberaler, so scheint es, könnte sein familiäres Umfeld kaum sein. Doch selbst Dolly zeigt wenig Verständnis für Rays Wunsch, endlich auch äußerlich als Junge erkennbar zu sein. "Warum kann sie nicht einfach lesbisch sein? Sie mag doch Mädchen", fragt sie und verkennt damit den Kern des Problems. Sie kann als Feministin nicht nachvollziehen, dass ihr Enkelkind mit medizinischer Hilfe seinen weiblichen Körper verändern will. "Nur weil ich lesbisch bin, heißt das nicht, dass ich tolerant bin", erklärt Dolly selbstironisch.
Auf der Suche nach dem eigenen Ich
Das Ringen der Eltern um die richtige Entscheidung wird für Ray unerträglich. Jeder weitere Tag im falschen Körper ist eine Qual. In einem Videotagebuch hält er seine Gedanken und Gefühle fest. Die Aufzeichnungen werden zu einer Selbstvergewisserung, etwa wenn er sich beim Muskeltraining filmt oder glücklich jedes Kilo mehr auf der Waage vermerkt. Dabei vermeidet es die Kamera, Rays Körper abzutasten, sondern verweilt vielmehr auf seinem Gesicht, während er kritisch seinen eigenen Körper ins Visier nimmt und auf Anzeichen von Männlichkeit hin untersucht. Gespielt wird Ray von Elle Fanning, die mit reservierter, aber selbstbewusster Körpersprache glaubhaft den pubertierenden Jungen im Mädchenkörper darstellt. Welche Probleme Ray in seinem Alltag hat, macht die Regisseurin Gaby Dellal in wenigen, aber aussagekräftigen Szenen deutlich: Welche Toilette soll er zum Beispiel in der Schule aufsuchen, wo strikt zwischen weiblich und männlich getrennt wird? Einmal wird er wegen seines Andersseins von einer Gruppe Gleichaltriger angepöbelt und verprügelt. Doch Ray ist kein isolierter Außenseiter. Er hat Freunde, wird aber auch nicht von allen als Junge anerkannt – etwa von einer Schulkameradin, in die er heimlich verliebt ist.
Kein Problemfilm
"Alle Farben des Lebens" besitzt mit seiner Transgender-Thematik und den daraus resultierenden Fragen alle Zutaten für einen Problemfilm. Doch Gaby Dellal inszeniert ihren Film mit viel Humor und Leichtigkeit, vor allem in Bezug auf das spannungsreiche Verhältnis zwischen den verschiedenen Generationen. Während sich die erste Hälfte des Films vor allem auf Ray und die bevorstehende Hormonbehandlung konzentriert, verlagert sich im zweiten Teil die Geschichte stärker auf die Konflikte innerhalb der Familie. Auf diese Weise bettet die Regisseurin das Transgender-Thema, das im Mainstreamkino noch zu selten behandelt wird, vorurteilsfrei und sehr geschickt in das vertraute Zum Inhalt: Genre des Familiendramas ein. Damit nimmt sie dem Thema zwar etwas von seinem Gewicht, zeigt aber zugleich auch, dass das "Abweichen von der Norm" nicht zu einem Problem werden muss. Mit seinem versöhnlichen Ende, bei dem die große Patchwork-Familie für ein gemeinsames Essen vereint wird, ist "Alle Farben des Lebens" eher ein Plädoyer für verschiedene Formen des Zusammenlebens und Liebens als das Porträt eines Jungen, der sich in einem falschen Körper gefangen fühlt.