Am Anfang steht ein Abschied: Die junge Lehrerin Dilek zieht ins weit entfernte Istanbul, Lale und ihre vier älteren Schwestern bleiben zurück in dem kleinen Dorf am Schwarzen Meer, wo sie seit dem Tod der Eltern bei Großmutter und Onkel unbeschwert aufwachsen. Sie ahnen nicht, dass dieser Tag ihr Leben verändern wird. Denn ein harmloser Spaß, eine Wasserschlacht mit Jungen nach der Schule, sorgt im Ort für Aufregung. Wutentbrannt wirft die Großmutter ihren Enkelinnen unsittliches Verhalten vor. Es gibt nur einen Ausweg, um die Familienehre wiederherzustellen: Die Mädchen müssen gezähmt werden. Computer, Handys, Schminke werden konfisziert, ihre Freiheiten und Rechte fortan systematisch beschnitten.

Ende der Kindheit

"Von einem Tag auf den anderen änderte sich alles", kündigt Lale, die Erzählerin des Films, aus dem Zum Inhalt: Off die kommenden Ereignisse an. Für die Schwestern bedeuten sie das abrupte Ende ihrer Kindheit. Nachdem sich die Ältesten der 12- bis 17-jährigen Mädchen ihre Jungfräulichkeit in einer Klinik bescheinigen lassen müssen, verwandelt sich ihr Zuhause in eine "Hausfrauenfabrik", wie Lale erklärt. Eingehüllt in bodenlange Kleider bestimmen nun Kochkurse und Hausarbeit ihren Alltag. Fenster und Türen werden verriegelt. Als die Ferien vorbei sind, kehren die Schwestern nicht in die Schule zurück, sondern werden heiratswilligen jungen Männern als Ehefrauen angepriesen und nach und nach vergeben.

Mustang, Trailer (© Weltkino)

Zwangsheirat in der türkischen Gesellschaft

In ihrem Spielfilmdebüt nimmt die frankotürkische Regisseurin Deniz Gamze Ergüven ein Prozedere ins Visier, das vor allem in ländlichen Gebieten der Türkei noch heute verbreitet ist. Obwohl die Eheschließung unter 18-Jährigen per Gesetz verboten ist, gelten hier patriarchale Traditionen, denen zufolge Mädchen möglichst früh in arrangierten Ehen, oft unter Zwang, verheiratet werden – etwa um ihre Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit zu gewährleisten oder um sexuelle Aktivitäten, häufig Sexualdelikte der Männer, zu legitimieren. Geltende Gesetze werden durch Ausnahmeregelungen umgangen oder Ehen nicht amtlich, sondern etwa in religiösen Zeremonien geschlossen.

Kampf um innere Freiheit

Die Regisseurin verdichtet in "Mustang" eigene Erfahrungen und Beobachtungen in einem Familiendrama, in dem ein patriarchalisches Rollenverständnis auf das Emanzipations- und Freiheitsbestreben einer jungen Generation stößt. Lale und ihre Schwestern, die mit ihrer ungestümen Lebensfreude an die titelgebenden Wildpferde erinnern, fügen sich nämlich keineswegs in die neue Situation, sondern versuchen, sich ihre innere Freiheit zu bewahren: Sonay und Selma sonnen sich auf einer vergitterten Terrasse, ein beinlanger Riss peppt das sackartige Kleid auf. Spätestens mit der Verheiratung von Sonay und Selma zerbricht jedoch die eingeschworene Gemeinschaft der Schwestern und schwächt damit die Position der verbleibenden Mädchen im Haus.

Täterinnen und Komplizinnen

Die übrigen Frauen in der Familie fügen sich dem strengen Regime des Onkels, obwohl die Großmutter anfangs sogar noch zaghaft aufbegehrt. Doch wissen sie auch, die Mädchen zu schützen. Als die Schwestern verbotenerweise zu einem Fußballspiel gehen und für alle sichtbar im Fernsehen ihre Mannschaft feiern, fingiert die Tante in einer überaus komischen Szene einen Stromausfall, um ihre Nichten zu decken. Wie die Großmutter ist auch sie von einer Doppelmoral geleitet. Aufgrund ihrer eigenen Biografie können sie sich in die Mädchen einfühlen, dennoch akzeptieren sie die Entscheidungsgewalt der Männer und vererben damit das selbst erfahrene Leid an die nächste Generation.

Mustang, Szene (© Weltkino)

Das Gefängnis Frau

Die Ausweglosigkeit der Situation verdeutlichen auch die Kameraperspektiven des Films. Zum Inhalt: Halbnahe bis nahe Einstellungen lassen ganz bewusst keine Orientierung zu. Die Zum Inhalt: Montage stellt ebenfalls kaum räumliche Zusammenhänge her, so dass das Elternhaus labyrinthisch erscheint. Im Kontrast dazu stehen die Zum Inhalt: sonnendurchfluteten Zimmer der Mädchen, in denen sie herumalbern, kuscheln und sich kleine Freiheiten nehmen. Parallel symbolisiert das sukzessive Verschließen aller Fluchtwege aus dem Haus bedrückend greifbar die Diskriminierung und Fremdbestimmung der jungen Frauen. Selbst die durch Totalen hervorgehobene malerische Abgeschiedenheit des Hauses im Wald wirkt bald wie eine zusätzliche Einkerkerung. Zunehmend entwickelt sich "Mustang" zum Gefängnisfilm, in dem es dem Zum Inhalt: Genre gemäß letztlich nur noch um Ausbruch geht.

Kritik an Unterdrückungsverhältnissen

Je mehr Schwestern durch ihre Heirat aus der Handlung ausscheiden, desto stärker rückt Lale, die Jüngste, ins Zentrum. Ihr kindlicher Blick erlaubt eine verstörende Unmittelbarkeit in der Wahrnehmung. An den Schicksalen ihrer Schwestern reift sie gezwungenermaßen und erkennt schließlich, dass sie selbst ihre Zukunft in die Hand nehmen muss. Um sich und Nur vor einer näher rückenden Verheiratung zu bewahren, wird sie zur treibenden Kraft für die Flucht an den Sehnsuchtsort Istanbul. Rund um Lales Figur als Verkörperung von Kindheit und Unschuld legt Deniz Gamze Ergüven feinfühlig offen, zu welchen Auswüchsen die Sexualisierung des weiblichen Subjekts führen kann. Religiöse Überzeugungen spielen hierbei weniger eine Rolle als vielmehr tradierte Unterdrückungsverhältnisse, in denen alltäglicher Sexismus genauso zum Ausdruck kommt wie die Missachtung grundlegender Menschenrechte in erzwungenen Ehen und in Fällen häuslicher Gewalt.

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