Kategorie: Filmbesprechung
"Timbuktu"
Timbuktu
Die Menschen in Timbuktu leisten zivilen Ungehorsam gegen islamische Fundamentalisten. Abderrahmane Sissakos Film ist ein poetisches Plädoyer für die Freiheit des Willens.
Unterrichtsfächer
Thema
Die Zum Inhalt: Eröffnungssequenz ist ein stummer Aufschrei zum Sound automatischer Waffen. Eine Gruppe Männer macht von einem Geländewagen aus Jagd auf eine Gazelle. Angetrieben von den Schüssen, flieht das Tier in Panik vor den Menschen, doch die haben nicht vor, es zu töten. „Mach es müde“, rufen sie dem Schützen zu. In der nächsten Zum Inhalt: Szene ist erneut eine Gruppe bewaffneter Männer zu sehen, diesmal bei Schießübungen in der Wüste. Als Zielscheiben fungieren Holzmasken und -figuren mit unverkennbar religiöser Bedeutung. Am Ende liegen sie zerschossen im Sand, aus dem geöffneten Mund einer Statue steigt schwacher Rauch auf, als würde ihr Geist entweichen. Die Dissonanz der Eröffnungssequenz zieht sich weiter durch Abderrahmane Sissakos "Timbuktu" , sie durchdringt gewissermaßen den Alltag der Menschen.
Jeden Tag patrouillieren die bewaffneten Männer, selbsternannte Krieger Gottes, auf Motorrädern in den staubigen Straßen Timbuktus. Aus ihren Megafonen plärren sinnlose, teilweise absurde Regeln, die das Leben der Menschen zunehmend einschränken. Ein Mann, dessen Hosenbeine sie für zu lang befinden, zieht seine Hose schließlich ratlos aus. Eine Fischverkäuferin auf dem Markt, die ihre Hände bei der Arbeit verhüllen soll, bietet den Dschihadisten wütend an, diese doch gleich abzuhacken. Nur mühsam kann die Mutter sie besänftigen. Selbst in der Moschee stoßen die Islamisten auf Widerstand. Der Imam verweist die bewaffneten Eindringlinge mit ruhiger Stimme aus dem Haus des Glaubens. Er führe, erklärt er ihrem Glaubensführer, seinen eigenen Dschihad. Ohne Waffen.
Soziales Gewebe
Mit wenigen, fast skizzenhaften Szenen entwirft Sissako gleich in den ersten Minuten seines Films ein vielschichtiges Bild der malischen Gesellschaft zu einem politisch brisanten Zeitpunkt. Im Frühjahr 2012 eroberten islamische Milizen Stadt für Stadt im Norden Malis und etablierten auf dem Territorium das Gesetz der Scharia. Die Nachricht von der Steinigung eines unverheirateten Paares habe ihn zu "Timbuktu" inspiriert, erklärt der in Mali aufgewachsene Regisseur in Interviews. Die Steinigung ist auch im Film zu sehen, doch die Szene fungiert nicht als dramatischer Höhepunkt im Dienste einer zugespitzten Empörung. Sie fügt sich in einen ruhigen Erzählfluss, der schließlich ein soziales Gewebe produziert, das unter dem rigorosen Regime beachtliche Spannkräfte entwickelt. Der Waffengewalt der Islamisten haben die Menschen Timbuktus nichts entgegenzusetzen außer ihren Stolz, den sie sich in kleinen Gesten bewahren. Die Jungen reagieren auf das Verbot des Fußballspielens mit einer sportlichen Choreografie ohne Ball. Die karibische Frau, die sich in ihren bunten Gewändern wie eine Schamanin unantastbar durch die Stadt bewegt, stellt sich in einer schmalen Gasse vor den Jeep der Dschihadisten. Sie gebietet der Gewalt buchstäblich Einhalt.
Stummer Widerstand
All diese Szenen filmt Sissako mit einem zurückhaltenden Stilwillen, der die realistische Grundierung seiner Alltagsbeobachtungen stets respektiert: das Fußballspiel der Jungen als eine poetische Pantomime, die an das balllose Tennismatch in Michelangelo Antonionis "Blow Up" erinnert; den Widerstand der Schamanin, in Anlehnung an das berühmte Protestbild vom Tian'anmen-Platz in Peking, als frontale Zum Inhalt: Draufsicht aus der Luft. So formiert sich in "Timbuktu" ein sanfter Protest gegen die Anwesenheit der Islamisten, der sich einfach darauf beschränkt, trotz der restriktiven Verhältnisse mit dem Tagesgeschäft, der Grundlage des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, fortzufahren. Ihre Würde lassen sich die Menschen nicht nehmen. Eine Frau, die für das Singen in ihrem Zimmer mit vierzig Peitschenhieben bestraft wird, antwortet auf die Strafe mit einem ergreifenden Lied.
Alte Konflikte brechen auf
Aus den neuen Machtverhältnissen brechen auch die alten Konflikte wieder hervor. Am Rande der Stadt lebt der Tuareg Kidane mit seiner Frau Satima und der Tochter Toya. Sie haben sich von der Gesellschaft zurückgezogen, doch der Einfluss der Islamisten reicht bis hier. Wenn Kidane mit seiner kleinen Herde in der Wüste sein Lager aufschlägt, sucht der Dschihadist Abdelkrim heimlich Satima auf, um ihr seinen Schutz anzubieten. Als noch gravierender allerdings erweisen sich in "Timbuktu" die traditionsreichen gesellschaftlichen Konflikte, die den Islamisten die Möglichkeit bieten, der einheimischen Bevölkerung die Härte ihres Gesetzes aufzuzeigen. Als Kidane bei einem Streit versehentlich einen Fischer tötet, nimmt der Film eine tragische Wendung.
"Timbuktu" entwirft das Mosaik eines Landes unter Besatzung, im ständigen Widerspruch zwischen politischer Fremdbestimmung und kultureller Identität. Hierfür findet Sissako eine filmische Form, die so klar und eindrücklich ist, dass er auf emotionale Überzeugungsarbeit verzichten kann. Stattdessen kommt eine Sprecherposition zu ihrem Recht, die in internationalen Konflikten und erst recht im aktuellen Weltkino immer seltener zu vernehmen ist: eine selbstbestimmte afrikanische Subjektivität, die sich nicht länger auf die passive Opferrolle festlegen lassen möchte.