Kategorie: Interview
"Man darf Kinder nie unterschätzen!"
Ein Gespräch mit dem Regisseur Hüseyin Tabak über seinen Film Das Pferd auf dem Balkon sowie über Qualitätsmerkmale von Kinderfilmen.
Ein Gespräch mit dem Regisseur Hüseyin Tabak über seinen Film "Das Pferd auf dem Balkon" sowie über Qualitätsmerkmale von Kinderfilmen.
Hüseyin Tabak, Sohn kurdisch-türkischer Gastarbeiter, ist in Bad Salzuflen in Nordrhein-Westfalen geboren und aufgewachsen. Seine Karriere beim Film startete er als Laufbursche. In der Folge arbeitete er sich vom Set-Praktikanten bis zum Regie-Assistenten hoch. Im Jahr 2006 begann er an der Filmakademie Wien seine Ausbildung, wo er Regie und Drehbuch bei Michael Haneke und Peter Patzak studierte. In dieser Zeit realisierte er die Zum Inhalt: Dokumentation (Österreich 2010). Tabaks erster Spielfilm "Deine Schönheit ist nichts wert …" (Österreich 2012) war zugleich auch sein Abschlussfilm an der Filmakademie. Zum Filmarchiv: "Das Pferd auf dem Balkon" (Österreich 2012) ist sein zweiter Spielfilm und seine erste Produktion für Kinder.
Herr Tabak, wie kam das Pferd auf den Balkon?
Oh, eine gute Frage. Die stellen auch die Kinder meist zuerst. Natürlich gibt es immer das Problem, dass man mit der Antwort all die Magie aus dem Film nimmt. Aber um ehrlich zu sein: Es ist digital gemacht. Ein Pferd kann natürlich nicht auf dem Balkon stehen, der Platz würde gar nicht ausreichen, es würde ja schon im Treppenhaus stecken bleiben. Auch ist die Gefahr zu groß, dass das Pferd über die Brüstung springt und sich verletzt.
Das ist die technische Antwort auf die Frage. Wie sieht die Antwort auf die metaphorische Frage aus?
Das Pferd und Mika suchen beide ihren Platz in der Gesellschaft. Das Pferd ist ein Rennpferd mitten in der Großstadt. Eigentlich hat es da nichts zu suchen. Genauso wie ein Asperger-Junge, den man auch nur ungern wahrnimmt. Beide sind unerwünscht. Darauf beruht auch ihre Freundschaft. Sie verstehen sich untereinander. Der Besitzer des Pferdes, Sascha, weiß nichts mit ihm anzufangen und die Kinder in der Schule wissen auch nichts mit Mika anzufangen. Zwei Gestalten am Rande der Gesellschaft. So finden sie als Freunde zueinander.
"Das Pferd auf dem Balkon" ist ihr zweiter Langfilm. Warum haben Sie dafür einen Kinderfilmstoff gewählt?
Eigentlich wollte ich einen eigenen Stoff verfilmen, hatte sogar schon das Drehbuch geschrieben. Als meine Produzentin mir anbot, eine Geschichte von Milan Dor zu verfilmen, wollte ich dem Autor gegenüber Respekt zeigen und es zumindest erst einmal lesen, bevor ich ablehne. Von der ersten Seite an, dem Monolog von Mika, war ich ergriffen und wollte es unbedingt machen. Mein Professor, Michael Haneke, hat mich bei der Entscheidung unterstützt.
Der Roman von Milo Dor (Vater von Drehbuchautor Milan Dor, Anmerk. d. Red.) ist 1971 erschienen. Warum hat es so viele Jahre gedauert, bis aus dem Kinderbuch ein Film entstanden ist?
Manchmal brauchen gute Dinge Zeit, aber hier war es Zufall. Roman und Film unterscheiden sich stark. Im Roman zum Beispiel kommt gar kein Junge vor. Es geht nur um den Mann, der mitten in der Stadt ein Rennpferd besitzt und nicht weiß, was er damit machen soll. Die Produzentin Katja Dor, Ehefrau des Drehbuchautors Milan Dor, hat diesen Stoff schon immer als Kinderfilm gesehen. Eines Winters saß sie in Wien in einem Café, als ein verwahrlostes Pferd vorbeikam. Ein Pferd ohne Besitzer. Von dieser Begegnung erzählte sie ihrem Mann, der sich im Gesprächsverlauf an eine Dokumentation über autistische Kinder erinnerte. So kamen die beiden Handlungen zusammen.
Das Besondere an dem Film ist die Perspektive aus der er erzählt wird, nämlich die Kindersicht. Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Ein Kinderfilm ist eben für Kinder und die sehen sich selbst gerne in Figuren. Das schafft man eben nur, wenn man mit ihren Augen erzählt. Wir wollten immer ehrlich und respektvoll mit ihnen umgehen. Das ist zum einen die Erzählperspektive, zum anderen sind es aber auch die Dialoge. Es gibt viele Kinderfilme, in denen die Sprache von Kindern unnötig verniedlicht wird. Ich habe mir selber noch mal Filme aus meiner eigenen Kindheit angeschaut. "Momo" und zum Beispiel. Selbst mit 30 entdecke ich immer wieder neue Sachen. Ich wollte einen Film machen, den Kinder gerne sehen und immer wieder neue Sachen entdecken. Das geht nicht, wenn ein Film unnötig verkindlicht ist. Man darf Kinder nie unterschätzen.
Wie schwierig war es, sich in die Kinderperspektive einzufinden?
Gar nicht. Ich gehe mit meinen Kinderschauspielern genauso um wie mit Erwachsenen. Man muss mit den Kindern auf Augenhöhe arbeiten. In Szenen, in denen ich mir nicht sicher war, ob Mika wirklich so reden oder handeln würde, habe ich mich mit dem Hauptdarsteller Enzo Gaier hingesetzt und gesprochen. Er hat als Schauspieler sehr viel Input gegeben. Am Ende ist er derjenige, der sein Gesicht in die Kamera hält und Emotionen übermitteln muss.
Was macht für Sie einen guten Kinderfilm aus?
Er sollte immer aus der Sicht der Kinder erzählt werden. Die Dialoge sollten so natürlich wie möglich rüberkommen und nicht von erwachsener Hand umständlich umgeschrieben werden. In einem Kinderfilm muss nicht immer alles verständlich und aufgelöst sein. Nach einem guten Kinderfilm haben die Kinder meist sehr viele Fragen. In unserem Fall wäre das "Was ist Spielsucht?", "Was ist Asperger-Autismus?" oder "Wie geht es Rennpferden wirklich?". Kinder wollen gefordert werden und nicht gesättigt aus einem Film kommen und alles sofort vergessen.
Wie haben Sie sich dem Asperger-Syndrom angenähert?
Ich habe sehr viel gelesen und Dokumentarfilme angeschaut. Ich habe mich mit autistischen Kindern getroffen, war bei einer Pferdetherapie. Das Allerwichtigste, was ich gelernt habe, war dieser eine Satz: "Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten". Jeder Autist ist anders. Ich habe einen Autisten kennengelernt, der zum Beispiel immer angefasst werden wollte und selbst Leute anfassen musste. Auf der anderen Seite habe ich Autisten kennengelernt, die eben nicht berührt werden wollen. Ich glaube, die einfachste Form, mit diesen Menschen umzugehen, ist ganz normal mit ihnen umzugehen. Im Endeffekt hat doch jeder, selbst Leute, die keine Autisten sind, seine Ticks und persönlichen Marotten. Autismus ist für mich keine Krankheit, es ist einfach nur eine Verhaltensstörung.
Wollen Sie mit dem Film erreichen, dass Berührungsängste gegenüber Asperger-Autisten abgebaut werden?
Als Regisseur mache ich keine Filme, um damit die Welt zu verändern. Aber wenn man einen Film aus der Perspektive eines Aspergers erzählt, passiert im Kino automatisch, dass die Zuschauer sich in die Person hineinversetzen und nach dem Film besser verstehen. Das ist kein erklärtes Ziel, aber ein schöner Nebeneffekt: dass der Zuschauer 90 Minuten lang selber Asperger-Autist ist.
Was ist die Botschaft des Films?
Das Leben ist besonders für Kinder voller Abenteuer und Fantasie hat keine Grenzen. Eines unserer Ziele war einen Film zu machen, in dem die Kinder die Abenteuer vor der eigenen Haustür erleben. Man muss sie nur wahrnehmen und mit der eigenen Vorstellungskraft ausschmücken.