Kategorie: Filmbesprechung
"Das Pferd auf dem Balkon"
Der zehnjährige Mika findet in einem Pferd einen lang ersehnten Freund. Als es darum geht, das Leben des Tieres zu retten, wächst der Asperger-Junge über sich hinaus.
Unterrichtsfächer
Thema
Die Vorstellung, dass sich die Tomatensauce auf dem Teller mit den Nudeln vermischen könnte, bereitet Mika großes Unbehagen. Und wenn das Essen nicht genau um 14:17 Uhr vor ihm steht, wird der zehnjährige Junge wütend und wirft seine Mahlzeit auf den Boden. Mika mag es nicht, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Er braucht in seinem Alltag klare Strukturen, Regeln und Rituale, die ihm Verlässlichkeit und Sicherheit bieten. Denn Mika hat das Asperger-Syndrom, eine leichte Form des Autismus. Deshalb fällt es ihm schwer, auf andere zuzugehen und da er alles wörtlich nimmt, versteht er auch keine Ironie. Auf Außenstehende wirkt sein Verhalten oft seltsam und in der Schule wird er deshalb gehänselt. Nur Dana, die in Wien im selben Wohnblock wie Mika lebt und allen erzählt, sie sei die Tochter eines indischen Maharadschas, lässt sich nicht abschrecken. Sie findet es vollkommen in Ordnung, dass Mika weder Lügen noch Witze mag und kaum jemanden an sich heran lässt. Komisch ist Mika höchstens, weil er Mathe liebt.
Ein Pferd auf dem Balkon
Als Mika eines Nachts aus dem Fenster schaut, traut er seinen Augen kaum. Steht da wirklich ein Pferd auf dem gegenüberliegenden Balkon? Am nächsten Morgen erzählt er Dana von seiner merkwürdigen Beobachtung, die der Sache sofort auf den Grund geht. Gemeinsam schleichen sich die Kinder dann in die Wohnung, die zu dem besagten Balkon führt, und lernen so deren Bewohner, den leidenschaftlichen Glücksspieler Sascha, kennen, der das ehemalige Rennpferd Bucephalus bei einer Tombola gewonnen hat. Mika fasst sofort Zutrauen zu dem Tier. Doch Sascha weiß nicht, was er mit Bucephalus anfangen soll, der aufgrund einer Verletzung nicht mehr an Pferderennen teilnehmen kann und überdies auch nicht zum Zuchthengst taugt. Und eigentlich braucht er schnellstmöglich Geld, um seine Schulden bei zwei Gaunern zu begleichen.
Beginn einer Annäherung
Während Sascha verzweifelt versucht, an Geld zu kommen, lernt er Mika besser kennen und versteht allmählich, was Bucephalus für den Jungen bedeutet. Und auch Mika begreift, dass er Sascha helfen muss, wenn er das Pferd, dem der Schlachthof droht, retten will. So beginnt für den Jungen und seine neue Freundin Dana ein Wettlauf gegen die Zeit, in dessen Lauf Mika gezwungen wird, sich auf überraschende Situationen einzulassen. Und schließlich kann er mit der Unterstützung seiner alten Nachbarin Hedi in einem Casino seine besonderen mathematischen Fähigkeiten unter Beweis stellen.
Vom Buch zum Film
Steht in dem gleichnamigen Kinderbuch von Milo Dor aus dem Jahr 1971 ein spielsüchtiger Erwachsener im Mittelpunkt, der mitten in einer Großstadt ein Pferd auf seinem Balkon hält, so erfindet der Film um dieses skurrile, märchenhafte Bild eine neue Geschichte. Mit dem Jungen Mika verschiebt sich die Perspektive dabei auf ein Kind, das aufgrund seiner Entwicklungsstörung nicht nur ein Außenseiter ist, sondern auch die Welt auf eine ganz eigene, ungewöhnliche Weise wahrnimmt.
Die Welt eines Asperger-Kindes
Indem der Film sich Mikas Sichtweise zu eigen macht, ermöglicht er auch für das Kinopublikum vor allem eines: einen anderen Blick auf die Dinge. Spielerisch und unaufdringlich vermittelt er in manchen Szenen, welche Eigenschaften Menschen mit Asperger-Syndrom auszeichnen, worin ihre Begabungen liegen und womit sie Schwierigkeiten haben. So illustrieren etwa kurze Zum Inhalt: Animationen, wie Mikas mathematisches Vorstellungsvermögen funktioniert, wenn er in Gedanken ein schief markiertes Fußballfeld in ein exaktes Rechteck umwandelt, während durch verschwommene Bilder die akustische und visuelle Reizüberflutung imitiert wird, die Mika bei einem Spaziergang durch die Stadt erlebt. Dennoch hält "Das Pferd auf dem Balkon" nicht immer das hohe Niveau von Jugendfilmen wie Zum Filmarchiv: "Ben X" (Nic Balthazar, Belgien, Niederlande 2007) oder (Mary and Max, Adam Elliot, Australien 2009), in denen es ebenfalls um Menschen mit Asperger-Syndrom geht. Je dramatischer die Handlung wird, desto widersprüchlicher wirkt mitunter die Darstellung von Mikas Verhalten, etwa wenn er plötzlich körperliche Nähe ohne Probleme ertragen kann.
Ersatzfamilie im Wintermärchen
Überzeugender hingegen ist der Film, wenn er hinterfragt, wer oder was eigentlich "normal" ist und was als "anders" – und somit als fremd – gilt. Denn auch wenn Mika der auffälligste Außenseiter ist, so erzählt "Das Pferd auf dem Balkon" letztlich von Menschen, die Probleme haben, nicht mehr gebraucht werden oder am Rande der Gesellschaft stehen: Mikas Mutter ist alleinerziehend, berufstätig und manchmal durchaus auch von dem schwierigen Verhalten ihres Sohnes überfordert. Sascha verwendet sein mathematisches Wissen nur zur Auswertung von Wahrscheinlichkeiten für Glücksspiele, die ihm dann doch kein Geld bringen. Das Nachbarsmädchen Dana, das sich scheinbar vor nichts fürchtet, kommt aus einer Familie mit Migrationshintergrund und Mikas Ersatzgroßmutter Hedi ist eine alte Tänzerin, die längst in Vergessenheit geraten ist. Ihnen allen begegnet der Film mit großer Sympathie. Im grauen (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung), winterlich-tristen Wien werden sie zu einer Ersatzfamilie für Mika, die ihm Sicherheit gibt – und "Das Pferd auf dem Balkon" wird zu einem abenteuerliches Großstadtmärchen.