Kategorie: Film
"The Artist"
Michel Hazanavicius lässt in "The Artist" mit viel Liebe zum Detail den Stil des noch ohne gesprochene Dialoge und Ton erzählenden Stummfilms wieder aufleben.
Unterrichtsfächer
Thema
Ein Film über das Ende der Stummfilmära
"You ain't heard nothin' yet – So was habt ihr noch nicht gehört!" Mit diesen Worten brachte Al Jolson als "Der Jazzsänger" (The Jazz Singer, USA 1927) Hollywood das Sprechen bei und leitete das Ende der Stummfilmära ein. Allerdings glich der Tonfilm zunächst eher einem Krächzen, da viele Produktionsfirmen ihre bereits fertig gestellten Stummfilme auf die Schnelle mit ein paar Satzfetzen versahen und als "Sprechfilm" verkauften. Es ist also kein Wunder, dass nicht jede/r an die tönende Revolution der Filmkunst glaubte und so manche/r der Stummfilmästhetik die Treue hielt.
Aus den "Silents" werden "Talkies"
Diesen tragischen Figuren setzt der französische Regisseur Michel Hazanavicius mit "The Artist" ein filmisches Denkmal. Bei ihm stellt sich der fiktive Stummfilmstar George Valentin beharrlich taub und steckt, als sein Studio zum Kino der "Papageien" wechselt, sämtliches Hab und Gut in ein ehrgeiziges Stummfilmabenteuer, das dann niemand mehr sehen will. Während sein Stern stetig sinkt, steigt die Statistin Peppy Miller zum Star der "Talkies" auf. Am Anfang des Films stolpert sie Valentin auf dem roten Teppich vor die Füße, am Ende ist sie beinahe die Einzige, die sich noch an ihn erinnert.
Hommage ans frühe Hollywood
Auch die Hollywood-Klassiker "Boulevard der Dämmerung" (Sunset Blvd., Billy Wilder, USA 1950) und "Du sollst mein Glücksstern sein" (Singin' in the Rain, Stanley Donen, Gene Kelly, USA 1952) handeln vom Ende der Stummfilmära – mal als Melodram, mal als Komödie. "The Artist" vereint beide Genres in sich und ist zudem so stumm wie Charles Chaplins berühmter Tramp. Mit viel Liebe zum Detail lässt Hazanavicius den Stil des noch ohne gesprochene Dialoge und Ton erzählenden Kinos der 1910er- und 1920er-Jahre wieder aufleben: Der Film, an Originalschauplätzen und mit stimmiger Zum Inhalt: Ausstattung gedreht, ist in Zum Inhalt: Schwarz-Weiß sowie im damals üblichen Zum Inhalt: Seitenverhältnis 1,33 : 1 gehalten,
Dialoge werden in Zum Inhalt: Zwischentiteln nachgereicht, Zum Inhalt: Kamerabewegungen bleiben auf das damals technisch Mögliche beschränkt. Im Gegenzug erhalten die musikalische Begleitung und vor allem der schauspielerische Ausdruck größeres Gewicht. So beginnt der Film etwa mit der Zum Inhalt: Großaufnahme eines zum Schrei weit geöffneten Munds, zu dem aber nur Zum Inhalt: Musik zu hören ist. Gerade die deutliche Mimik und Gestik der Stummfilmdarsteller/innen erlaubt es, ins Innere der Figuren zu sehen und eine Geschichte beinahe ohne Worte zu erzählen. Ein Paradebeispiel für dieses visuelle Erzählen ist die wunderbare Pantomime, mit der Peppy Miller ihre Liebe zu Valentin verrät: Während sie in dessen Garderobe auf ihn wartet, lässt sie sich von seinem Frack umgarnen, als wäre dieser er selbst.
Gefühle zeigen
Ein beliebtes und aus heutiger Sicht nicht ganz unbegründetes Vorurteil über den Stummfilm lautet, dass seine Regisseure dazu neigten, die fehlende Sprache durch exzessive Handlungsmuster, etwa durch Slapstick, und große Gefühle wie im Melodram zu kompensieren. Hazanavicius greift beides in einem meisterlichen Abschnitt auf: Der ruinierte Valentin schaut seine alten Filme an – tatsächlich sieht man Ausschnitte aus "Das Zeichen des Zorro" (The Mark of Zorro, Fred Niblo, USA 1920) mit Douglas Fairbanks – und verbrennt sie in einem Anfall von Verzweiflung. Als er in den Flammen das Bewusstsein verliert, holt Valentins treuer Hund Hilfe und trumpft dabei auf wie die Vierbeiner zu besten Slapstick-Zeiten.
Großer Auftritt für den Ton
Der heimliche technische Hauptdarsteller, der Filmton, macht sich naturgemäß rar und platzt entsprechend wuchtig in eine alptraumhafte Szene: Valentin sitzt in seiner Garderobe, als plötzlich einzelne Geräusche die Stille zerreißen und ihn mit Angst und Schrecken erfüllen. Auch das mittlerweile an die schweigsame Welt gewohnte Publikum zuckt hier zusammen. Erst im Finale, den Dreharbeiten zu einem Musical, das an die Filme von Fred Astaire und Ginger Rogers erinnert, macht Valentin seinen Frieden mit dem Ton und der eigenen Stimme.
Künstlerische Freiheiten
Bei so viel ansteckender Liebe zu einem künstlerisch herausragenden Abschnitt der Filmgeschichte ist es verzeihlich, dass sich Hazanavicius allerlei Freiheiten erlaubt. So wirft er die vielfältige und immerhin über dreißigjährige Geschichte des Stummfilms ziemlich bunt durcheinander und wird dessen Ästhetik mehr als einmal untreu. Am auffälligsten mit einem langen Zitat aus Bernard Herrmanns Zum Inhalt: Musik zu (Alfred Hitchcock, USA 1958), für die sich unter den Orchesterstücken der Stummfilmzeit sicherlich ein würdiger Ersatz gefunden hätte. Auch das Star- und Studiosystem von Hollywood wird etwas kurz abgehandelt. So gab es zwar eine Reihe von Stummfilmstars, die wegen stimmlicher oder sprachlicher Probleme an der Hürde des Tonfilms scheiterten. Allerdings erscheint es unwahrscheinlich, dass ein Studio seinen größten Star – und damit sein größtes Kapital – dermaßen sang- und klanglos untergehen lässt. Aber wäre Michel Hazanavicius, der mit der "OSS 117" -Reihe (Frankreich 2006, 2009) schon die Spionagefilme der 1950er- und 60er-Jahre parodierte, ein Purist, wäre "The Artist" wohl nur halb so bewegend und amüsant geworden.