Lebensmittelskandale und industrielle Massenfertigung
Für die meisten Menschen ist es ein Lebensmittelskandal, wenn außerplanmäßig gesundheitsschädigende Stoffe in der Nahrung vorkommen, etwa Dioxin im Fleisch, Ehec auf Gemüse oder Salmonellen in Ei und Huhn. Häufig, wenn ein derartiger Skandal von sich reden macht, so legt es Valentin Thurn in seinem Film
Taste The Waste nahe, erfahren wir allerdings, dass wir im Grunde selbst schuld sind an der Misere: Wenn möglichst viele Nahrungsmittel möglichst billig in unseren Einkaufswägen und auf unseren Tellern landen sollen, dann sei dies wohl nur um den Preis einer industriellen Massenfertigung oder -verarbeitung zu haben, welche häufig fehleranfällig und risikobehaftet sei.
Wegwerfen in einer Überflussgesellschaft
Von einem weitaus größeren Skandal handelt Valentin Thurns Dokumentarfilm
Taste The Waste. Dieser Skandal betrifft Lebensmittel, die eigentlich vollkommen in Ordnung sind, aber gar nicht konsumiert werden: Tonnen von Getreide, Gemüse und Obst, die angebaut werden, um massenhafte Verfügbarkeit zu gewährleisten, und dann doch im Müllcontainer landen. Möglicherweise wird nirgends die Bedeutung des Begriffs "Überflussgesellschaft" deutlicher als hier. Meist gelangen diese Lebensmittel erst gar nicht in den Kühlschrank der Verbraucher/innen, sondern werden vom Anbaufeld, dem Großhandel oder Supermarkt direkt in die Tonne expediert – weil die Kartoffeln zu klein oder zu groß sind, weil sich in der Obstkiste mehr als drei angeschimmelte Orangen finden, oder weil der Joghurt in sechs Tagen abgelaufen sein wird.
Kreislauf der Verschwendung
Taste The Waste beschäftigt sich ausführlich mit dem erschreckenden Ausmaß einer Verschwendung, die nicht nur Nahrung vernichtet, die anderen Menschen fehlt, sondern auch Raubbau an allgemein knapper werdenden Energieressourcen bedeutet. Anhand von geschickt
montierten Beispielen aus Deutschland, den USA, Österreich, Frankreich oder Japan zeigt Thurn auf,
dass diese Verschwendung geleistete Arbeit und investiertes Geld entwertet, sich verheerend auf die Preisentwicklung auf dem Weltmarkt und damit zusammenhängend auf die landwirtschaftlichen Strukturen in der so genannten Dritten Welt auswirkt. Moralisch ist das durchaus industriell organisierte Wegwerfen von Lebensmitteln, wie es in den westlichen Industrieländern praktiziert wird, angesichts des globalen Ungleichgewichts von Arm und Reich eigentlich nicht zu verantworten. Zugleich stellt es jedoch Bedingung wie Folge einer Konsumideologie dar, die auf der permanenten und massenhaften Verfügbarkeit von Gütern beruht. Hand in Hand greifen dabei Handels- und Agrarnormen, die beispielsweise dazu führen, dass manche Lebensmittel gleich auf dem Feld liegen bleiben oder später dann am Fließband der Verpackungsanlage aussortiert werden. Dass die zu dicken Kartoffeln von Bauer Graefe gar nicht erst geerntet werden, hat nichts mit ihrer Qualität oder ihrem Nährwert zu tun, sondern damit, dass sie nicht einem konformen ästhetischen Erscheinungsbild entsprechen, das letztlich dazu dient, die Distribution zu erleichtern.
Widerstand und Gegenstrategien
Thurn prangert jedoch nicht nur Missstände an, sondern zeigt auch Gegenstrategien auf: Wenn EU-weit jährlich nicht mehr 90 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen würden, sondern nur die Hälfte, würde dies klimaschädliche Gase ähnlich drastisch reduzieren wie die Stilllegung jedes zweiten Autos. In ihrer niederschmetternden Wucht bleibt diese Tatsache nicht unkommentiert: Im Anschluss unterhält sich Thurn mit dem Betreiber einer Biogas-Anlage, in der Lebensmittelabfälle zur Stromerzeugung genutzt werden, sowie einem Bäcker, der mit dem täglich übrig gebliebenen Brot seine Backöfen heizt.
Nüchterner Erzählstil und nachvollziehbare Argumentation
Filmisch geht
Taste The Waste durchaus konventionell vor: Interviewpassagen wechseln mit szenischen Einstellungen. An Stelle eines erklärenden Kommentars fassen einige Texttafeln die Zahlen zusammen, und mitunter erlaubt sich das zur Dramatik tendierende
Sounddesign einen traurigen Kommentar – zum Beispiel, wenn zum rhythmisch montierten Wegwerfen nicht verkauften Fisches leise das Geräusch von Meeresbrandung zu hören ist. Insgesamt enthält sich Thurn jedoch weitgehend der Polemik, stattdessen lässt er die Fakten für sich sprechen. Den weitreichenden Verästelungen seines Themas folgt der Filmemacher organisch, wie jemand, der einen Faden findet, neugierig daran zieht – und langsam den ganzen Pullover auftrennt. So führt zum Beispiel das Gespräch mit einer aus Kamerun stammenden Mitarbeiterin der Pariser Tafel, die aus Markthallen-Abfällen Genießbares heraus sortiert, den Filmemacher zu den Kleinbauern nach Afrika. Sie berichten, wie ihre wirtschaftliche Existenz durch die Landankäufe und Großplantagen der multinationalen Konzerne vernichtet wurde. Im Anschluss erklärt ein Mitarbeiter des Zentrums für Entwicklungsforschung in Berlin, welcher Zusammenhang zwischen der Lebensmittelvernichtung der Industrienationen und den Lebensmittelunruhen aufgrund steigender Preise in Afrika besteht. Am Ende erhält das Publikum ein schlüssiges Bild von Ursache und Wirkung – und konkrete Anregungen, wo sich auch im eigenen Konsumverhalten der Hebel zur Veränderung ansetzen ließe.
Autor/in: Alexandra Seitz, freie Journalistin und Filmkritikerin, 04.08.2011
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