Life in a Day – Ein Tag auf unserer Erde basiert auf einer demokratischen Idee. Für den 24. Juli 2010 riefen Ridley Scotts Produktionsfirma Scott Free Films und YouTube alle Internet-User auf, ihren Alltag zu filmen und das Resultat ins Netz zu stellen. Die Privataufnahmen sollten als Rohmaterial für ein globales Filmprojekt dienen, das einen Einblick in das Leben der Menschen an diesem Tag gewährt.
Antipoden: Kino und Internet
Es war das erste Mal, dass Kino und Internet eine solche Partnerschaft eingingen. Diese Annäherung ist auch von kultureller Bedeutung, denn beide verhalten sich bisher eher als Antipoden. Das Internet ist mittlerweile das prägende audiovisuelle Medium, auch weil seine Produktions- und Vertriebshierarchien "flacher" (und damit vermeintlich basisdemokratischer) angelegt sind. Das Kino hat hingegen
in den vergangenen Jahren seine Deutungshoheit über die Bildproduktion eingebüßt. Lange Zeit hat es sich aufgrund technisch-kultureller Parameter wie einer besseren Bildqualität oder dem Gütesiegel der Nachhaltigkeit, die das 'langsame' Medium Kino gegenüber den flüchtigen und Nutzer-generierten Inhalten des Internets auszeichnete, einer natürlichen Autorität gegenüber anderen Bildmedien versichern können. Immer höhere Datenübertragungsraten, (kreative) Partizipationsmöglichkeiten der User, und eine nahezu uneingeschränkte Verfügbarkeit des Internets haben diese Autorität jedoch langsam untergraben. Filme werden heute aus dem Netz heruntergeladen und auf dem Laptop angeschaut; der kulturelle Mehrwert des Kinos spielt bei der Filmerfahrung nur noch eine untergeordnete Rolle. Dieser Paradigmenwechsel wird in
Life in a Day offenkundig, weil sich die ausgewählten Beiträge, mit handlichen Digitalkameras, Mobiltelefonen und in einem Fall sogar mit einer altmodischen Videokamera gedreht, ästhetisch stark voneinander unterscheiden – was dem Film eine schöne Textur verleiht und den patchworkartigen Charakter des Unterfangens herausstellt.
Prinzipielles Problem
Über 80.000 Menschen aus 192 Ländern sind dem Aufruf über YouTube gefolgt. 4.500 Stunden Privataufnahmen haben Regisseur Kevin Macdonald und seine Mitarbeiter/innen gesichtet – und sortiert. Entstanden ist ein poetisches, manchmal berührendes Dokument. Die Herausforderung, in dem disparaten Material eine differenzierte und tiefschichtige Geschichte zu finden, die sich im chronologischen Rahmen eines 24-Stunden-Tags erzählen lässt, gerät allerdings zum prinzipiellen Problem von Macdonalds Film. Der Regisseur tritt in die Rolle des Kurators, der die Bilder willkürlich auswählt und
montiert – und damit bewertet und interpretiert. Bekenntnishafte Selbstdarstellungen wechseln sich mit Alltags- und Familiensituationen und eher traditionellen Dokumentaraufnahmen ab. Thematisch strukturiert wird der Bilderfluss durch allgemeine Fragestellungen wie "Was liebst du?", die sich leitmotivisch durch den Film ziehen.
Soundtrack zur Bilderflut
Neben der
Montage, die beispielsweise mit Deckungsschnitten auf kreative Weise ähnliche Motive und Muster unterschiedlicher Einstellungen zu übergeordneten inhaltlichen
Sequenzen bündelt und damit versucht, eine "Metageschichte des menschlichen Daseins" zu erzählen (siehe auch
Arbeitsblatt, Aufgabe 2), kommt dem
Soundtrack bei der Ordnung des Materials eine wichtige Rolle zu. Einer der Komponisten, der international bekannte DJ Matthew Herbert, hat schon unter dem Pseudonym Dr. Rockit aus den Geräuschen von Küchengeräten synthetische House-Tracks gebastelt. Ähnlich geht er in den innovativeren Momenten von
Life in a Day vor, wenn er beispielsweise die Töne von Schritten und Frühstücksvorbereitungen zu rhythmischen Klangcollagen
montiert. Viele andere
Sequenzen aber versuchen, mit den psychologischen Mitteln der klassischen
Filmmusik den Bildern emotionale Tiefe zu verleihen, die Tonspur drängt sich immer wieder unangenehm in den Vordergrund.
Life in a Day wird problematisch, wirkt künstlich, wenn mit Hilfe solcher kinematografischer Konventionen auf eine formale Geschlossenheit abgezielt wird.
Einordnung des Geschehens
Zudem läuft Macdonald ständig Gefahr, das YouTube-Quellenmaterial für eine Bildermaschine zu funktionalisieren, im Sinne eines Selbstbedienungsladens, aus dem sein Film beliebig schöpfen kann. Denn da die meisten Mitwirkenden einmalige Auftritte haben, der Film auch nur Ausschnitte und Szenen aus den Originalclips benutzt, bleiben ihre "realen" individuellen Erfahrungen schwer erkennbar. Die persönlichen Schicksale müssen sich dem Fluss der Erzählung unterordnen.
Inszenierte Authentizität?
Wenn auch Privatvideos Einblicke in das Leben eines Menschen gewähren sollen, beruhen sie doch meist auf bewussten (Selbst-)Darstellungen.
Diese Feststellung trifft umso mehr zu, wenn Tausende aufgerufen werden, an einem bestimmten Tag ihr Leben zu filmen. So verschwimmen in
Life in a Day die Grenzen von Authentizität und Inszenierung. Einige Hobbyfilmer/innen haben die Dramaturgie ihres Drehtages genau durchgeplant: Der Verliebte, der seine Angebetete endlich um ein Date bitten möchte – und eine Abfuhr erhält. Oder der junge Mann, der seiner Oma am Telefon seine Homosexualität beichtet. Zusätzlich haben Scott und Macdonald auch Kamerateams in entlegene Punkte der Welt geschickt, um die globale Balance des Films zu wahren. Dieses facettenreiche Kaleidoskop bietet durchaus reizvolle zwischenmenschliche Einblicke, doch die Zuschauenden sind ständig gefordert, die Herkunft der Bilder zu bewerten. Aber es stehen ihnen nur die Informationen zur Verfügung, die aus den Aufnahmen selbst hervorgehen.
Ethische Aspekte
Ein ethischer Aspekt kommt schließlich im emotional eindringlichsten Moment des Films ins Spiel: den Aufnahmen von der Massenpanik während der Duisburger Love Parade, bei der 21 Techno-Fans zu Tode kamen. Solche Bilder in einem Dokumentarfilm zu verwenden, ist auf der einen Seite nachvollziehbar, weil der 24. Juli 2010 für viele Menschen mit dieser Tragödie assoziiert bleiben wird, und sie dies dokumentieren möchten. Aber es stellt den Regisseur, in diesem Fall Kevin Mcdonald, auch vor die grundsätzliche Frage, ob solche teilweise schockierenden Privataufnahmen, die unter anderem auch Wiederbelebungsversuche von Personen zeigen, für eine Öffentlichkeit bestimmt sind. Spekulativ wird es, wenn sich die Love-Parade-Bilder schließlich als Einleitung für eine kurze Sequenz über Gewalt herausstellen. Den Aufnahmen aus Duisburg folgen einige willkürliche Bilder von Ausschreitungen und Angriffen, die bei den Betrachtenden außer einem kurzen Schock keine weitere Reflexion auslösen, da ihr politischer Kontext unklar bleibt. So muss man
Life in a Day vorwerfen, dass ihm an entscheidenden Punkten die nötige Reflektiertheit fehlt – auch wenn der Film einen wirklich spannenden Ansatz hat und einige sehr zeitgemäße Fragen über Nutzung und Nutzen der Neuen Medien aufwirft.
Autor/in: Andreas Busche, Filmpublizist und Filmrestaurator, 23.05.2011
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